Unterwegs in Madrid:Die Ruhelose

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Wenn die untergehende Sonne alte Hausfassaden tieforange färbt, erwacht die spanische Hauptstadt aus ihrem Tagesdämmer und bereitet sich auf den wichtigsten Zeitabschnitt vor - die Nacht.

Hans Gasser

Es ist, als hätte der Regisseur gesagt: So, und ihr zwei geht jetzt mal über die Straße und spielt ein schwules Pärchen, das über die Straße zum Einkaufen geht. Zwei Jungs, beide groß und sehr dünn. Beide Kurzhaarschnitt und Sonnenbrillen, groß wie Schlafmasken. Beide stecken in Röhrenjeans, Kapuzenpulli und gehen eingehakt. Und über den freien Unterarmen hängt jeweils eine große Designer-Handtasche.

Spanien
:Madrid, die ruhelose Hauptstadt

Madrid ist die Stadt, die niemals schläft - wenn es dunkel wird, geht das Leben in den Straßen erst richtig los.

Halb zwölf vormittags, in der Calle Hortaleza in Chueca, dem Viertel, in dem sich ein Großteil des Madrider Nachtlebens abspielt. Vor Jahren zogen hier die Homosexuellen ein, weil sonst niemand mehr hier wohnen wollte, wegen Schmutz, Kriminalität und Drogen. Binnen weniger Jahre ist aus dem ehemaligen Schmuddelviertel ein boomender Stadtteil mit unzähligen Kneipen und Nachtbars, mit Designergeschäften, Schneiderläden und Kultureinrichtungen geworden.

Es gilt nun als schick, hier zu wohnen. Die Schwulen sind nicht mehr unter sich, aber sie sind stets präsent, zeigen sich mit einer Nonchalance, die im Herzen des katholisch-machistischen Spanien zumindest überrascht. Hier gehen schlecht zurechtgemachte Transen mit roten Dauerwellenperücken über die Gehsteige sowie fast perfekte, denen man es erst auf den zweiten Blick ansieht. Niemand schaut ihnen nach, außer ein paar verwunderte Touristen.

Um halb zwölf vormittags wacht dieses Viertel allmählich auf. Bei den meisten Geschäften sind noch die blechernen Rollläden geschlossen, und es gibt hier eigentlich keinen, der nicht mit Graffiti besprüht wäre.

Das ganze Viertel, wie auch das benachbarte Malasaña, wurde großteils um die Wende zum 20.Jahrhundert im Pariser Stil erbaut, die Häuser sind drei- bis vierstöckig, haben Eisenbalkone und viel Backstein. Durch die engen Gassen beginnen sich nun die Lieferwagen zu schieben, und sobald mal einer kurz halten muss, drücken alle dahinter die Hupe.

Man lässt sich hier am besten durch die Gassen spülen, die eine hinauf, die andere hinunter. Es ist alles schachbrettartig angelegt, man kann sich nicht verlaufen. Heiße Schokolade mit Churros hier, ein paar Tapas in Form von öligen Tintenfischen oder panierten Bechamel-Croquetas dort.

Da hält man es schon bis zwei Uhr mittags aus, wenn es in den Restaurants endlich etwas zu essen gibt. Cocido Madrileño zum Beispiel. Das ist dem Madrilenen ungefähr das, was dem Münchner seine Weißwurst ist: Jeden Tag muss man's nicht haben, und man sollte nicht zu viel davon essen. Der Cocido ist eine Art Eintopf, der zur einen Hälfte aus Kichererbsen und zur anderen aus Fleisch besteht.

Im Lokal La Bola, das dafür berühmt ist, wird der Cocido in einem Tonkrug mit Deckel serviert. Der Gast muss die Serviette schützend vor sich halten und der Kellner gießt den noch kochenden Kruginhalt in den Teller. Auf einen Berg Kichererbsen fallen zuletzt große Fleischbrocken, Rind, Schwein, Huhn und Wurst. ,,Que aproveche!'' - Mahlzeit!

Danach möchte man eigentlich drei Stunden schlafen. Geht aber nicht, denn der Palacio Real schließt in gut einer Stunde. Das Königsschloss, dessen Baubeginn ins Jahr 1738 fiel, nachdem die alte Festung abgebrannt war, steht direkt an einer Klippe, an der die Madrider Hochebene nach Westen hin abfällt.

Und somit hört hier auch die Altstadt abrupt auf. Sie streckt sich nur nach Osten aus. Die Mauren hatten hier eine Festung gebaut, weil sie von der Höhe gut sehen konnten, ob der christliche Feind angriff. Im Laufschritt geht es durch die Prunkräume, Deckenfresken von Tiepolo, Geigen von Stradivari, Gemälde von Goya.

Hier wurde der Beitritt Spaniens zur EU unterzeichnet, dort war Franco aufgebahrt, hier fand die Nahostkonferenz von 1992 statt. In Erinnerung bleiben vor allem die Goya-Porträts von Carlos IV. und seiner Frau Maria Luisa von Parma.

Man kann es den Königsleuten nicht verdenken, dass sie den Hofmaler später ins Exil gejagt haben. Perfekter und schonungsloser konnte man ihre Hässlichkeit wohl nicht darstellen: Sie: enormer Unterbiss, listige Äuglein, der Mund ein Strich. Er: fliehendes Kinn, Jahrhundert-Zinken, Bluthochdruckschädel.

Abends herrscht eine schöne Stimmung zwischen dem Palacio und der Almudena-Kathedrale gegenüber. Die Sonne färbt die bombastische Palastfassade orange, Menschen sitzen auf den Steinstufen und genießen den Vorfrühling. Die Stadt erwacht langsam wieder aus ihrem Tagesdämmer und bereitet sich vor auf den wichtigsten Zeitabschnitt, die Nacht.

Tapas ab neun, Abendessen gegen halb elf, danach noch ein paar Drinks. Das scheint hier auch werktags der ganz normale Rhythmus selbst der arbeitenden Hauptstädter zu sein. Wobei ,,Stadt'' ja eigentlich falsch ist. In der Verfassung steht, die Hauptstadt Spaniens ist ,,la villa de Madrid'', was soviel heißt wie Marktflecken. Bis 1561 Philipp II. den Hof hierher verlegt hat, war Madrid ein unbedeutendes Nest, nicht zu vergleichen mit Sevilla oder Cordoba. Selbst als Königssitz wurde Madrid niemals das Stadtrecht verliehen, deshalb ist es heute mit drei Millionen Einwohnern wohl der größte Marktflecken der Welt.

Und so geht es hier auch zu, marktschreierisch, laut und hemmungslos. An der Puerta del Sol, einem der meist frequentierten Plätze der Altstadt stehen schon am frühen Abend die Prostituierten und bieten ihre Dienste an. Niemand stört sich daran, sie gehören dazu wie die Losverkäufer.

Die Madrilenen werden nicht umsonst als los chulos bezeichnet. Chulo kann gleichzeitig cool und eingebildet heißen, vorlaut und angeberisch, aber auch toll und schick. Und chulo ist auch das Wort für Zuhälter.

Man ist hier seit jeher einiges gewohnt: Wo im Mittelalter der Marktplatz war, baute man im 17.Jahrhundert die Plaza Mayor, einen großen, komplett von Gebäuden eingefassten Platz. Die ,,heilige Inquisition'' und der fast ebenso heilige Stierkampf hatten hier ihren Schauplatz.

Man kann sich gut vorstellen, wie die Leute auf den drei Reihen schmiedeeiserner Balkone ringsum gestanden und gegeifert haben, während Rauch aufging und Blut spritzte. Ketzer oder Stier möchte man hier nicht gewesen sein.

Sonst gibt es nicht viel Altes in der Stadt, denn die Madrilenen sind nicht verlegen, wenn es gilt, Altes abzureißen und Neues zu bauen. ,,Disculpen las molestias'' - Entschuldigen Sie die Belästigung - steht allerorten; Bauzäune und Bagger gehören zum Stadtbild.

An der Ausfallstraße Castellana, die früher Avenida del Generalissimo hieß, stehen kleine Palacios aus der Gründerzeit neben Hochhäusern wie der Torre Picasso, die ehrwürdige Nationalbibliothek unweit der Betonschüssel des Bernabeu-Stadions. Das ist nach dem Prado die Sehenswürdigkeit mit den meisten Besuchern.

Gegen eins geht es erst richtig los

Menschenmassen und Lärm - damit muss zurecht kommen, wer in dieser Stadt wohnt, speziell in den Ausgehvierteln Chueca und Malasaña. Gegen eins machen sich viele hier erst auf in die Nachtbars. Die Straßen im nächtlichen Chueca werden von Menschen geflutet. Die Scheu vor dem Krachmachen fehlt gänzlich.

Statt in ohnehin meist überfüllte Lokale setzt man sich gerne in die Gasse oder auf Plätze, singt, spielt Gitarre, kifft und trinkt. Für Nachschub sorgen eifrige asiatische Wanderhändler, die allerorts Dosenbierbatterien anbieten. Als eine junge, vom Alkohol enthemmte Frau um halb vier Uhr in einer Gasse ihrem Freund eine sehenswerte und sehr laute Szene macht, schauen die meisten Passanten nicht einmal hin. Man gibt sich hier eben ganz chulo.

© SZ vom 15.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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