Städtereise Singapur:Dschungel mit Autobahn

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Nicht viele Metropolen können von sich behaupten, in ihrer Mitte einen Regenwald zu haben. Singapur schon.

Von Arne Perras

Wong Tuan Wah, der Ökologe, schwärmt von der erstaunlichen Artenvielfalt, die sich hier erhalten hat. Ist ja auch toll. Aber müssen einen die Bewohner des Dschungels wirklich schon auf den ersten Metern derart erschrecken? Neben dem Weg, im Gebüsch, liegt ein stiller Jäger, um einen Ast gewickelt - eine Lanzenotter. Das Muster auf ihrem Körper ist schwarzgelb gezackt, der Kopf breit und keilförmig. Zoomt man ihn mit dem Kameraobjektiv heran, sieht man große gelbe Augen. Der Puls muss sich beruhigen, dann erst kann man sich über das schöne Farbenspiel freuen. "Nicht sehr aggressiv", beruhigt Wong. Und als Beute kommt man glücklicherweise auch nicht infrage, verspeist diese tropische Viper doch Nager, Eidechsen und Vögel.

Das Exemplar im Gebüsch scheint Wong schon zu kennen, man finde die Schlange oft an diesem Platz, sagt der Forstwissenschaftler, der nun hineinführt in den dichten Wald. Aufpassen muss man natürlich schon, denn die Lanzenotter ist giftig - ihr Biss kann einen Menschen nicht töten, aber um einen Klinikaufenthalt kommt man nicht herum. Tagsüber ruht das Tier, erst in der Nacht wird die Schlange munter. Beim Jagen katapultiert sie ihren Körper blitzartig nach vorne, was ihr den Namen eingebracht hat.

Asien
:Im Regenwald von Singapur

Impressionen aus dem Dschungel der Metropole - und seiner Natur.

Das Bukit Timah Nature Reserve, das Reich der Lanzenotter, ist der größte ökologische Schatz, den Singapur zu bieten hat. Einen Regenwald mitten in der Metropole können nicht viele Städte für sich reklamieren. Rio de Janeiro hat einen. Und eben der Stadtstaat Singapur, der eher für seine Skyline und glitzernden Bankentürme als für sein grünes Herz bekannt ist. Dass es dieses Schutzgebiet inmitten der dicht besiedelten Stadt überhaupt noch gibt, ist Zeugnis eines starken stadtplanerischen Willens, der Raum lässt für Biodiversität.

"Da haben wir den Briten viel zu verdanken", sagt der Forstwissenschaftler Wong, der als Experte der Nationalparkbehörde das Waldgebiet seit vielen Jahren betreut. "Sie haben diesen Wald damals unter Schutz gestellt." 1883 war das, auf Empfehlung des damaligen Leiters des Botanischen Gartens, Nathaniel Cantley. So entstand eines der ersten Schutzgebiete der Region. Später, als Singapur unabhängig wurde, hat der neue Staat unter Führung seines Gründervaters Lee Kuan Yew den Naturraum bewahrt, obgleich der Druck auf den wertvollen Grund bis heute enorm ist. Singapur ist etwa so groß wie Hamburg, nur leben hier doppelt so viele Menschen.

Singapur aber will sich als "eine Stadt im Garten" präsentieren, auf seine Grünflächen ist der Stadtstaat stolz. Dabei ist der Wald viel mehr als nur ein Garten. Man taucht ein in ein wildes üppiges Dickicht. Wong Tuan Wah ist auf einen kleinen Pfad nach rechts abgebogen, der sich durch den Wald die Anhöhe hinaufschlängelt. Das dichte Blätterdach schützt vor der Sonne, hier unten herrscht ewiges Dämmerlicht. Dank der riesigen Bäume, die noch überall in die Höhe ragen. Wong klopft an den Stamm eines 50 Meter hohen Urwald-Giganten. Dieser hier hat einen Umfang von mehr als fünf Metern. Und es gibt sogar noch größere Arten: Shorea oder Serayas genannt. Sie werden bis zu 60 Meter hoch. Viele Baumriesen haben auf den 164 Hektar des Schutzgebietes überdauert. "Deshalb ist dieses Gebiet so wertvoll", sagt Wong. Seit die Briten es unter Schutz gestellt haben, gab es hier keinen Holzeinschlag. Die Bäume, die teils 150 Jahre alt sind, sind von den Motorsägen verschont geblieben, die in anderen Teilen Südostasiens bis heute so gnadenlos in den Wäldern wüten.

Aber die Experten des Nationalparks wollen auch nichts dem Zufall überlassen, deshalb kann man auf der Rückseite des Stammes einen Draht sehen, der in die Erde führt. Da es in Singapur häufig zu heftigen Unwettern kommt, haben alle Baumriesen Blitzableiter.

Der höchste Punkt im Regenwald liegt 163 Meter über dem Meeresspiegel, zugleich ist dies auch die größte Erhebung Singapurs. Im Nordosten wird das Regenwaldgebiet von einer großen Stadtautobahn begrenzt, doch führt über sie eine breite Brücke für die Wildtiere. So ist der Dschungel von Bukit Timah mit einem weiteren Schutzgebiet verbunden, dem Central Catchment Nature Reserve. Diese von Wäldern und Wiesen durchsetzte Seenlandschaft ist Singapurs größtes Wasserreservoir; in seiner Nähe hat auch der weltberühmte Zoo einen Platz gefunden. Wanderwege und Korridore verknüpfen all diese grünen Zonen miteinander, die zusammen mehr als 2000 Hektar umfassen. Der Besucherandrang ist groß. Dennoch gibt es gerade im Bukit Timah Nature Reserve auch Zeiten, in denen man ungestört durch den Wald streifen kann, ohne dass alle zwei Minuten ein keuchender Jogger vorbeihastet.

Die mit dichtem Busch begrünte Brücke, die über die Autobahn führt, ist allerdings nicht für Besucher gedacht, hier wechseln Wildschweine, Rehe und Schuppentiere hin und her, die ansonsten leicht unter die Räder kämen. Mit Kamerafallen haben die Forscher dokumentiert, dass dieser Weg tatsächlich von zahlreichen Wildtieren genutzt wird, gerne auch vom Kleinkantschil, einem Tier aus der Familie der Hirschferkel, das zu den kleinsten Paarhufern der Welt gehört. Ein kleiner Trost ist das für all jene, die bedauern, dass diese Waldgebiete vor 30 Jahren von einer breiten Asphaltschneise durchschnitten wurden. Heute ist die Straße eine der wichtigsten Verkehrsachsen, sie verbindet den Norden der Stadt mit dem Süden.

SZ-Karte (Foto: SZ-Karte)

Forstwissenschaftler Wong, der weiter durch den Wald stapft, erzählt, dass er manchmal aufgeregte Anrufe bekommt, wenn wieder Durian-Saison ist. Diese Frucht, deren Geschmack die einen göttlich finden und die anderen ganz abscheulich, ist für viele Menschen aus Singapur eine Delikatesse. Und Durian-Bäume wachsen auch hier, im Bukit Timah Nature Reserve. "Der Opa ist verloren gegangen", melden besorgte Bürger der Nationalparkbehörde, die dann Suchtrupps ausschwärmen lässt. Selbst die Gurkhas, eine Elitetruppe der Polizei, mussten schon helfen, vermisste Durian-Sammler zu suchen. Gefunden hat man die älteren Herren bislang noch alle - meistens waren sie glücklich und zufrieden mit ihrer Durian-Ausbeute. Und sie wundern sich über den Auftrieb.

Früher wäre es noch etwas gefährlicher gewesen, sich in diesen Wäldern herumzutreiben. Denn es streiften nicht nur Wildschweine und Rehe durchs Dickicht, sondern auch Asiens große Jäger: die Tiger. Im 19. Jahrhundert wurden die noch in der Nähe der Orchard Road gesichtet, wo heute eine Glitzermall neben der anderen steht. Entlang dieser Straße hatten die ersten kolonialen Siedler Muskatnuss-Plantagen angelegt - die Tiger waren eine Gefahr für die Arbeiter. Das Gebiet um Bukit Timah galt als besonders gefährlich. Die Kolonialverwaltung zahlte damals für jede erlegte Raubkatze zwanzig Dollar. Schon bald war die Großkatze ausgerottet.

Zwei ausgestopfte Tiger sind noch in einer Vitrine im Besucherzentrum zu sehen, im Bukit Timah Nature Reserve jagten die Raubkatzen damals Sambarhirsche und Wildschweine, die es noch immer gibt. Denn im Gegensatz zu den Tigern haben viele der Wildtiere den rapiden Wandel Singapurs überdauert - dank des Waldes von Bukit Timah, der ihnen Schutz und Nahrung bietet.

Doch was ist das? Oben am Stamm eines Baumriesen hängt ein braunes Knäuel. Ein malaiischer Colugo, ein Riesengleiter, klammert sich in die Rinde. Und wer das Kerlchen mit der Kamera heranzoomt, entdeckt noch mehr: Zwei große runde Augen blicken aus dem flauschigen Fell der Mutter. "Das Weibchen trägt das Jungtier am Bauch in einer Art Tasche. Wie ein Känguru", erklärt Wong Tuan Wah. Zu den Beuteltieren gehören die Colugos trotzdem nicht. Wer so einen gewandten Gleiter mit einem Jungen sieht, hat großes Glück. Noch seltener haben Besucher das Vergnügen, diese kleinen Säugtiere beim Absprung beobachten zu können. Wenn es dämmert, klettern die Colugos den Stamm ganz nach oben. Dann springen sie los, strecken Arme und Beine von sich, sodass sich die Flughäute am Körper spannen. Allerdings haben sie den Basejumpern und Wingsuit-Piloten, die es ihnen nachmachen, immer noch einiges voraus. Denn Colugos können bei der Landung an den nächsten Baumstamm andocken. Kaum zur Nachahmung empfohlen.

© SZ vom 20.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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