Reisebuch "Aletsch":In der Arktis der Alpen

Reisebuch "Aletsch": Er rinnt und rinnt: Zwei Schmelzwasserströme vereinigen sich am Konkordiaplatz. Pro Jahr wird der Aletsch 35 Meter kürzer.

Er rinnt und rinnt: Zwei Schmelzwasserströme vereinigen sich am Konkordiaplatz. Pro Jahr wird der Aletsch 35 Meter kürzer.

(Foto: Marco Volken)

Die Bedeutung des Aletschgletschers für die Menschen kann nicht überschätzt werden, doch er schmilzt ab. Ein Buch zeigt ihn in allen Facetten.

Rezension von Hans Gasser

Mit den Gletschern ist es ein bisschen wie mit der Wildnis ganz allgemein. Sie liegt besonders den Großstädtern am Herzen. So setzen sie sich für die Rückkehr des Wolfes ein und bedauern den Gletscherschwund oft viel stärker als die Einheimischen, die tagtäglich mit Wolf respektive Gletscher leben müssen.

Aus der Sicht zum Beispiel eines Alm- oder Waldbauern in der Gemeinde Fieschertal im Schweizer Kanton Wallis konnte der Aletschgletscher gehörig nerven. Auf seinem unaufhaltsamen Weg Richtung Tal vernichtete er Weidegründe, Alphütten oder Arvenwald, was nicht selten dazu führte, dass der Bauer in seiner Existenz bedroht wurde. Kein Wunder also, dass die Fieschertaler ein Gelübde ablegten. Jahrhunderte lang hielten sie jährlich eine Prozession ab, "um den sich schlängelnden Gletscher einzudämmen und demselben Zügel anzulegen, auf dass er nicht weiter mehr sich ausdehne". Die Gletscherstirn, sein unterstes Ende, wurde sogar mit Weihwasser besprengt, Kreuze oder Heiligenbilder wurden aufgestellt.

Das hat seit 1650 so gut geholfen, dass der Gletscher sich immer weiter zurückgezogen hat und die Fieschertaler 2009 bei Papst Benedikt um Erlaubnis baten, das Gelübde umzukehren: Seitdem beten sie, dass der Gletscher wieder größer wird. Sie brauchen sein Wasser, aber noch mehr seine Schönheit für die Touristen. Es hat sich also fundamental verändert: der Gletscher selbst und das Verhältnis der Menschen zu ihm.

Doch es hilft alles nichts

Besonders gut sieht man dies am Aletschgletscher, Neben dem Matterhorn ist er die bekannteste Natur-Attraktion der Schweiz. Seine geschwungene Form und seine Ausmaße sind für sich beeindruckend: 23 Kilometer ist er lang; zwischen dem höchsten Punkt in seinem Einzugsgebiet, dem Aletschhorn auf fast 4200 Meter Höhe, und der Gletscherzunge im Aletschwald überwindet er einen Höhenunterschied von 2600 Metern. An der dicksten Stelle am Konkordiaplatz ist das Eis fast 900 Meter dick. Seine Fließgeschwindigkeit beträgt an manchen Stellen bis zu einen Meter pro Tag.

Doch es hilft alles nichts: Trotz dieser Ausmaße werden nach Einschätzung von Experten in 100 Jahren von ihm nur noch einige Fetzen übrig sein. "Das Rennen um den Erhalt der Gletscher in den Alpen haben wir leider wohl bereits verloren", zitiert Marco Volken, der Fotograf und Autor dieses sehr kenntnisreichen Buchs, den Glaziologen Wilfried Haeberli. Das liegt natürlich an der Erwärmung der Atmosphäre. Während kleinere Gletscher in den kühleren Jahrzehnten nach 1950 auch gewachsen sind, reagiert der große Aletschgletscher nicht auf solch kurzzeitige Schwankungen, sondern auf die große Temperaturentwicklung: Zwischen 1870 und 2014 ist er insgesamt drei Kilometer kürzer geworden, im Durchschnitt 21 Meter jährlich. Seit 1983 waren es sogar 35 Meter pro Jahr.

Doch es geht Volken in diesem Buch mit seinen hervorragenden, geradezu didaktischen Fotos nicht vorrangig um das Beklagen des Gletscherschwunds. Mehrere Gastautoren beschreiben fast alle Facetten dieses Naturphänomens, vom Eis selbst über die dort vorkommenden Lebewesen wie den Gletscherfloh bis hin zur Wechselwirkung mit dem Menschen. Dessen bestimmendste Ausprägung ist heute natürlich der Tourismus. Ganze Täler leben von der Anziehungskraft nicht nur der Viertausender, sondern auch des beeindruckenden Gletschers zwischen ihnen. Am Eggishorn und der Belalp, von wo man ihn in seiner ganzen Länge sieht, ist der Tourismus Ende des 19. Jahrhunderts nur seinetwegen entstanden. Und die 1912 gebaute Bahn aufs Jungfraujoch hatte auch den Jungfraufirn zum Ziel: "Der Jungfraufirn zu Füssen der Station bis hinunter zum Konkordiaplatz bietet jahrein jahraus ungefährliche Ski- und Schlittelfelder", schwärmte die Neue Zürcher Zeitung 1913. Heute reicht den meisten der 850 000 Menschen, die jährlich das Joch besuchen, der Ausblick. Was aber aus dieser Art von Tourismus wird, wenn die Gletscher verschwunden sind?

Marco Volken: Aletsch. Der Größte Gletscher der Alpen. AS Verlag, Zürich 2016. 208 Seiten, 160 Abbildungen, 62,90 Euro.

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