Bergbauernhilfe in Südtirol:"Hier oben fühle ich mich frei"

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Statt Wanderidylle Heuernte am Steilhang: Vor der Traumkulisse Südtirols teilen Freiwillige das harte Leben der Bergbauern. Dafür gibt es kein Geld und trotzdem einen Lohn.

Marcel Burkhardt

Die Morgensonne strahlt golden, von den Bergen weht ein angenehm kühler Wind herab - für den passionierten Wanderer Rüdiger Löwegrün eigentlich ideales Wetter, um durch die Natur zu streifen. Der 63-jährige Braunschweiger hält kurz inne, blickt auf schneebedeckte Alpengipfel, atmet tief durch, dann gibt er sich einen Ruck, zieht seine Gummistiefel an und geht hinüber in den Stall. Dort ist frühmorgens - wenn überall sonst auf dem Bauernhof noch himmlische Ruhe herrscht - schon mächtig Leben drin.

Bergbauernhilfe in Südtirol
:Mit vollem Einsatz

Ohne die Hilfe von Freiwilligen könnten unverschuldet in Not geratene Südtiroler Bergbauern ihre Höfe nicht erhalten.

In einer Ecke grunzen die Schweine, bis sie ihren Weizenheubrei in den Trog bekommen, den sie schmatzend schlabbern. Hühner laufen gackernd herum, picken nach Körnern. Auch Lara, Maia, Lena und die zwölf anderen Milchkühe warten auf Futter. Ihr lautes Muhen verrät Ungeduld.

Altbauer Rudolf Zöschg füttert sie mit frischem Heu, der 78-Jährige ist schon seit halb sechs Uhr auf den Beinen. Er ist noch immer jeden Tag der erste im Stall, obwohl er starke Schmerzen im Rücken und in den Beinen hat. Allein: Er kennt es nicht anders, will so weitermachen, wie er es sein Leben lang getan hat. Als Rüdiger Löwegrün ihn mit einem lauten, zackig rollenden "Guten Morgen, Rudolf" begrüßt, lächelt der Alte. Er ist froh, seinen Helfer zu sehen.

Rüdiger Löwegrün könnte es sich leisten, einen ausgedehnten Wanderurlaub in Südtirol zu machen und in einem guten Hotel zu nächtigen. Stattdessen begnügt sich der Frührentner mit einer schlichten Kammer und hilft einer Bergbauernfamilie vier Wochen lang ohne Lohn, aber für freie Kost und Logis, bei allen Arbeiten, die auf ihrem Hof und den Wiesen anfallen.

Im Stall mistet er morgens und abends aus, wenn nötig repariert er Maschinen, außerdem packt er jeden Tag bei der Heuernte an den steilen Berghängen kräftig mit an.

Löwegrün ist einer von circa 1600 Menschen, die jedes Jahr nach Südtirol reisen, wenn Bergbauern unverschuldet in Not geraten sind. Sei es durch einen Unfall, Krankheit oder einen Todesfall. Seit 1996 schickt der Verein "Freiwillige Arbeitseinsätze" ( www.bergbauernhilfe.it) aus Bozen Helfer auf inzwischen 270 Höfe. Im vergangenen Jahr brachten es die Freiwilligen, zu mehr als 70 Prozent sind es Deutsche, auf 16.700 Einsatztage. Die Südtiroler Bauern bewirtschaften ihr Heimatland unter schwierigen Umständen - Lohnarbeiter können sich die meisten nicht leisten.

Manche Freiwillige suchen in der Bergwelt das ursprüngliche Leben, wollen sich selbst in der Natur wiederfinden. Monika Thaler, eine junge zierliche Frau, die Helfer und Bauern zusammenbringt, macht Romantikern sofort eindringlich und unmissverständlich klar: "Ein erholsamer Urlaub auf dem Bauernhof wird das nicht, es ist vor allem harte Arbeit!" Die Helfer brauchen Fitness und viel guten Willen.

Rüdiger Löwegrün hat beides im Übermaß. Bäuerin Ilse Breitenberger, Zöschgs Tochter, klopft Löwegrün auf die Schulter. "Du bist ein Geschenk des Himmels", sagt die 36-Jährige und meint das ganz ernst.

Die Breitenbergers sind froh um jede helfende Hand. Die Familie muss sich mit einer Reihe von Schicksalsschlägen herumplagen, schweren Krankheiten und Unfällen. Alles haben sie irgendwie allein bewältigt, als dann aber Bauer Heinrich vor drei Jahren im Heustadl durch eine Luke drei Meter in die Tiefe stürzte und sich dabei einen Brustwirbel brach, war es zu viel. Monatelang konnte er sich nicht bewegen, spürte kein Gefühl mehr im Leib.

"Die Moral war völlig im Keller", sagt Ilse. Und dennoch: Um Hilfe bitten fiel schwer, das verbat lange der Stolz. Doch als die Existenz wirklich bedroht war, probierten sie es mit den Freiwilligen "aus der Welt da draußen".

Sie haben es nicht bereut. Rund 20 Männer und Frauen kamen bisher, um zu helfen. "Zu einigen sind echte Freundschaften entstanden", sagt die Bäuerin. Und wenn Altbauer Rudolf seinen deutschen Helfer einen "kommoden Knecht" nennt, dann klingt das weich und freundlich, nicht herablassend.

Rüdiger Löwegrün hilft der Familie bereits im zweiten Jahr, "als Knecht auf Zeit", wie er mit einem Schmunzeln sagt. Er sieht in den Bauern vor allem Pfleger einer von ihm geliebten Landschaft. "Sie erhalten den Charakter dieser Gegend, deshalb helfe ich ihnen."

Für sein Lieblingshobby, das Wandern, hält sich Löwegrün nur den Sonntag frei. Von Montag bis Samstag stellt er sich in den Dienst der Familie. Sein Einsatz wird jetzt vor allem bei der Heuernte gebraucht, denn an den extremen Hanglagen können die Bauern kaum Maschinen einsetzen. Bis in den Oktober hinein mähen die Breitenbergers nach und nach das Gras auf ihren 13 Hektar großen Wiesen, lassen es trocknen und fahren es ein. Wer die Arbeit nicht gewohnt ist, bekommt schnell rote, heiße Hände und Schwielen.

An schönen Sommertagen arbeiten die Bauern bis zu 18 Stunden. Ihre Gedanken sind fast immer beim Heu, dem Futter der Kühe. Sie rechnen so: "Geht es den Tieren gut, können auch wir überleben!"

Mit Milch verdienen die Breitenbergers ihr Geld. Auch wenn die Sonne heiß vom Himmel herab brennt, sich jeder eine Pause im Schatten wünscht, bleiben die Bauern streng. Weiter machen und keinen Halm vergessen! So muss später kein Futter teuer dazugekauft werden.

Die Härte der Bauern

Auch Bauer Heinrich beißt die Zähne zusammen. Wer ihn beim Hauen des Futters beobachtet, kann seinen Schmerz fast selbst spüren. Wenn er seinen Oberkörper dreht, jagen ihm Stiche durch den Leib, er verzieht das Gesicht, keucht. Wenn sich die Sense im Brombeergestrüpp verfängt, stöhnt er auf. Es muss eine Qual sein. "Es ist nicht mehr so gut wie früher", sagt der 48-Jährige, während er die Klinge schärft, "aber es könnte schlimmer sein".

Die Härte der Bauern zu sich selbst und ihre Zähigkeit beeindrucken Helfer Rüdiger Löwegrün. "So eine Viecherei nimmt doch heute kaum noch jemand auf sich", sagt er. Die Breitenbergers kennen keinen Urlaub, waren nicht einmal auf Hochzeitsreise. Von den Erträgen ihres Hofes kommen sie gerade so über die Runden. Zwar gibt es für die Kuhmilch Höchstpreise von bis zu 50 Cent pro Liter - für den Lohn aber, der übrig bleibt und von dem zwölf Menschen leben, würde in München, Frankfurt oder Hamburg wohl kaum ein Hilfsarbeiter auch nur einen Finger rühren.

Die Breitenbergers klagen kaum. Bäuerin Ilse sagt: "Es klingt vielleicht altmodisch, aber der Hof ist unser Ein und Alles, unser Leben, wir lieben es so." Wer ihr zuhört, dabei die Berge im Blick hat, den frischen Heuduft einatmet und die warme Sonne auf der Haut spürt, der fühlt sich fast selbst daheim in den Bergen.

Der Ausblick vom Familienhof oberhalb des Dorfs Sankt Nikolaus lässt einen zunächst wieder an eine heile Welt glauben. Die teils 500 Jahre alten Holzhäuser schmiegen sich an den steilen Berg. Im Ultental glitzert smaragdgrün das Wasser des Zoggler Sees. Der Tumpfhof der Breitenbergers ist umgeben von Wiesen und Wäldern - ein Postkartenidyll auf 1600 Metern Höhe. Und die nächste Stadt, Meran, liegt gefühlt weit mehr als nur eine Autostunde entfernt. Wer den Weg zu den Bergbauern findet, begibt sich auch auf eine Zeitreise, in eine Welt ohne Internet, Skype, Twitter und Facebook.

Hände voller Schwielen

Den anderen Lebenstakt hier oben hat auch Ulrike Berninger lieben gelernt. In ihrem Bürojob muss die Verlagsangestellte aus Bad Kissingen oft viele Dinge auf einmal bewältigen, ständig klingelt das Telefon, ploppen Mails am Bildschirm auf. Immer sind da Stress, Unruhe, der gedrückte innere Alarmknopf. Auf dem Berg dagegen kann sie sich ganz auf eine Aufgabe konzentrieren. Das macht sie zufrieden.

Zwei Wochen hat sie auf dem Nachbarhof der Breitenbergers mitgeholfen, im Haushalt und bei der Heuernte. Ihre Hände sind voller Schwielen, aber das macht ihr nichts aus. Im Gegenteil: Sie ist froh über das Erlebnis. Nun weiß sie, wie viel Arbeit hinter einem Stück Butter oder einem Liter Milch steckt.

Als größten Lohn empfindet sie ein Gefühl von Leichtigkeit: "Ich habe so viel Ballast im Tal gelassen, hier oben fühle ich mich frei, ich lebe einfach."

"Morgen geht's ja wieder richtig rund"

Nach 13 Stunden Arbeit im Stall und auf den Wiesen fühlt sich Rüdiger Löwegrün an diesem Abend zwar alles andere als leicht und frisch, aber froh ist er allemal über sein Tagwerk. "Da haben wir doch wieder ordentlich was geschafft", sagt er beim Abendessen. Großmutter Walburga hat Giggerstiezn gebraten, Hühnerschenkel sind das, und Rüdiger amüsiert sich prächtig - ein paar Brocken Ultnerisch wird er also auch noch mitnehmen, wenn er bald wieder nach Braunschweig fährt, heim zu seiner Frau und seinem Hund.

Altbauer Rudolf öffnet eine Flasche Rotwein, die Männer trinken ein paar Gläser. Draußen verschwindet die Abendsonne hinter den Berggipfeln. Im Fernsehen läuft ein Fußballspiel. Noch die zweite Halbzeit? "Nee, nee, lass mal, morgen geht's ja wieder richtig rund", sagt Rüdiger, steht auf und geht die knarrende Holztreppe hinauf in seine Schlafkammer.

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