Wahl in Nordrhein-Westfalen:Frau in der Schlangengrube

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"Insolvenzverwalterin der SPD": Hannelore Kraft wurde als Notlösung für NRW verspottet. Nun könnte die Sozialdemokratin Ministerpräsidentin am Rhein werden.

Hans Leyendecker und Johannes Nitschmann

Erst holte Franz Müntefering ein wenig aus, dann erklärte er ausführlich, wie die SPD geführt werden müsse, um Erfolg zu haben. Damit Hannelore Kraft ihm auch folgen konnte, malte er auf ein Blatt Papier oder auf eine Serviette, genau ist das mit dem Material nicht mehr zu klären, ganz viele Pfeile und gab ihr den Ratschlag, sie müsse vorneweg marschieren, Themen setzen und dürfe der Partei nicht immer alles haarklein erzählen.

Hannelore Kraft trat als Notlösung an - und überrascht derzeit viele an Rhein und Ruhr. (Foto: Foto: dpa)

Die Lehrstunde mit Müntefering ist schon ein bisschen her, welchen Erfolg sie haben wird, ist unklar. Haben nicht die Strategen vom Schlage Münteferings mit all ihrer Erfahrung und dem totalen Durchblick die Partei fast in den Konkurs geführt? "Die Kraft hat die SPD in NRW als Insolvenzverwalterin übernommen", sagt der Grünen-Fraktionsvorsitzende Reiner Priggen. Am 9. Mai wird an Rhein und Ruhr ein neuer Landtag gewählt, und die 48 Jahre alte Kraft ist Spitzenkandidatin der SPD. "Nur nicht weiter so", sagt sie. Dieser Satz hat viele Bedeutungen.

Als Hannelore Kraft 1994 in Mülheim in die SPD eintrat, saß Müntefering bei Ministerpräsident Johannes Rau im Kabinett und war Vorsitzender des mächtigen SPD-Bezirks Westliches Westfalen. Wenn die Westfalen pfiffen, machten auch echte SPD-Größen Männchen, selbst SPD-Kanzler standen stramm. Aber die Bezirke in NRW sind längst aufgelöst; der mit 137.000 Mitgliedern immer noch größte Landesverband ist mittlerweile auch nur noch ein Segment der Insolvenzmasse SPD.

Vor Ort kriselt es

Bei näherem Hinsehen kriselte es schon damals in der Partei vor Ort. Auch deshalb konnte die Unternehmensberaterin Kraft, die bei einer landeseigenen Gesellschaft beschäftigt war, als Seiteneinsteigerin in der Partei vorankommen. Bei der Landtagswahl im Jahr 2000 wurde sie ins Parlament gewählt und fiel dort auf, weil sie "keine Dumpfbacke war", wie ein Sozialdemokrat sagt.

Dass sie 2001 Europaministerin in der Staatskanzlei des damaligen SPD-Ministerpräsidenten Wolfgang Clement wurde, war aber eher Zufall. Und als der 2002 nach Berlin wechselte, machte Peer Steinbrück, der neue Düsseldorfer SPD-Regierungschef, Kraft zu seiner Wissenschaftsministerin. Sie sei "nicht der typische Funktionärstyp", der die "Partei wie Mehltau gegen die unbequeme Realität abschirmt" , sagt Steinbrück heute.

Als die SPD 2005 nach 39 Jahren ihre Festung NRW verlor und der Christdemokrat Jürgen Rüttgers eine schwarz-gelbe Koalition anführte, kam Kraft mit Hilfe der früheren SPD-Ministerpräsidenten an die Spitze der Fraktion; 2007 wurde sie Landesvorsitzende. Wer konnte, machte sich nach der Niederlage davon, ging nach Berlin oder in die Wirtschaft. Zurück blieb eine Fraktion der Ehemaligen und der Niemande. Eine Fraktion, die tapfer erklärte, so unzufrieden sei man auch wieder nicht, man käme zurecht und wolle nicht klagen. So redet und funktioniert Opposition.

Verbreitete Selbstverherrlichung

"Die Kraft war eine Notlösung" sagt einer der Alten. Nicht wenige von denen, die das alles eingebrockt haben, neigen immer noch zur Selbstverherrlichung und dazu die Verbliebenen als politische Luschen zu qualifizieren, die Spitzenkandidatin natürlich ausgenommen. Dabei fällt auf, dass in dieser NRW-SPD nur Männer Geschichten zu erzählen haben.

"Wenn ein Mann über Macht spricht, ist das attraktiv. Wenn eine Frau das macht, verschreckt sie die Männer", sagt die Kandidatin. Eine Mann stelle sich "nicht infrage". Eine Frau habe "Selbstzweifel". Auch Frau Kraft? Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass Frauen in Parteien mit Frauen anders umgingen als Männer mit Männern, widerspricht ein Kenner Düsseldorfer Verhältnisse.

Sie setze sich "anders durch als diese Testosteron-Männer", behauptet sie. Ihr Führungsstil sei "irgendwie schon männlich, aber irgendwie auch anders". Bei ihr liegt vieles im Irgendwie. Auch politisch versucht sie gern den Spagat. Eine Hausmacht hat sie in der Partei nicht, was für eine Herausforderin ungewöhnlich ist. In der SPD-Fraktion fiel sie früh durch ruppigen Führungsstil auf. Manche ihrer Gefolgsleute klagen, sie sei beratungsresistent. Sie widerspricht da nur halb: "Ich lasse mir schon was sagen, aber ich kann auch lospoltern, wenn man mir einen Rat gibt."

Im Wissenschaftsministerium, sagt sie, sei sie von "hochintelligenten Leuten umgeben" gewesen. Dann macht sie eine Kunstpause. In Partei und Fraktion habe sie "andere Rahmenbedingungen" vorgefunden. "Keine hochintelligenten Leute?" "Das haben Sie jetzt gesagt", erwidert die Sozialdemokratin. Ein Beleg für die These, dass sie von Personalführung wenig versteht? In der Opposition hat sie jedenfalls kein Team aufgebaut.

Egal, wer das Land regiert: Sie oder er hat kaum noch Geld zu verteilen, muss hart sein und den Leuten doch das Gefühl vermitteln: Ich bin kein Zombie. Glaubt mir, hört mir zu. So wundert es nicht, dass Amtsinhaber und Kandidatin diese Botschaft gleichermaßen nimmermüde verkünden.

Rüttgers teilt also dem staunenenden Land mit, dass er sonntags das Frühstück macht, Kraft berichtet vom Stress vor Weihnachten und dass es dann daheim mit Mann Uwe, der so eine Art Semi-Hausmann ist und Sohn Jan schon mal krache: "Wir sind alle drei laute Menschen". Ihre Mutter, die sie liebt, habe im Haus eine eigene Wohnung. Sonst gäbe "es Tote". Die Wahlkampfstrategen glauben offenbar, dass man das wissen muss.

Eine aus dem Volk

Wenn Kraft im Wahlkampf auftritt, sagt sie häufig datt und watt, wie die verlässlichen Leute aus dem Revier so reden. Die Beobachter halten den Dialekt für den unwiderlegbaren Beweis, dass die Kandidatin echt und authentisch sei. Aber Dialekt kann auch platt sein. Wichtiger für das Bild von der Kandidatin ist ihr Hinweis, dass sie aus dem Arbeiterviertel Mülheim-Dümpten stammt. Vater und Mutter rackerten sich für die Kinder fast zu Tode, damit die es mal besser hätten. So was prägt wirklich.

Sie habe in Düsseldorf vieles verändert, sagt Kraft. In der Fraktion entscheide jetzt Kompetenz über die Besetzung von Ausschüssen, nicht die Wartezeit. Auch schicke sie die anderen und sich immer wieder ins Leben; SPD-Leute gehen nun in die Betriebe, in die Krankenhäuser. Die SPD solle eine "Kümmererpartei" werden, sagt die Politikerin. Das wäre sie gerne: Eine Schutzmacht für die kleinen Leute und die Anständigen.

Ihre Wahlkampfthemen sind Kommunalfinanzen, Bildung, Kopfpauschale, Arbeit. Aber nichts davon wird die Wahl entscheiden. Eine Opposition kommt nicht ohne kränkelnde Regierung an die Macht. Das ist das Einmaleins der Politik. In NRW gibt es keine Wechselstimmung, aber es liegt etwas Exotisches in der Luft.

Große Verwunderung

In Berlin reiben sie sich die Augen. Kraft sitzt hier zwar seit langem schon in allen wichtigen Gremien, aber sie galt bislang als Fremde. Das Misstrauen beruht auf Gegenseitigkeit. Die steril aufgeregte Wichtigkeit der Berliner Bescheidwisser schreckte die Kandidatin bislang eher ab. Die Hauptstadt mit den Hintergrundkreisen, dem Geflüster, den gestreuten Informationen ist ihr so unheimlich, dass sich daraus ein Programm machen ließe - Frau Kraft als Verbündete der Bürger gegen den Berliner Stil. Andererseits ist diese Rolle schon mit Jürgen Rüttgers ziemlich gut besetzt.

Seit der Wahlkampf läuft, sieht mancher Würdenträger der Partei die Spitzenkandidatin plötzlich anders. "Die kann ja reden, wird die gecoacht?" fragt einer der Wichtigen. Obwohl die Spitzen der SPD vor zu hohen Erwartungen warnen, ist bei der Wahl übernächsten Sonntag manches drin. Der Fortbestand der bürgerlichen Koalition ist unwahrscheinlich, Schwarz-Grün ist immer noch realistischer als Rot-Grün. Aber selbst die Ampel, also eine Koalition von SPD, Grünen und FDP, ist trotz aller Dementis nicht ganz ausgeschlossen.

Mit den Linken oder nicht?

Würde die SPD-Frau auch mit den Linken regieren? Diese Frage ist schon Hunderte Male gestellt und ebenso oft ganz eindeutig und undeutlich zugleich beantwortet worden. Kraft will auf gar keinen Fall mit den Linken. Parteichef Sigmar Gabriel ist strikt dagegen, und ebenso wie Steinbrück hat er die Kandidatin gedrängt, sich noch deutlicher abzugrenzen. Sie mag das aber nicht - aus strategischen Gründen. Die Links-Schwärmer in der NRW-SPD könnten verprellt werden. Bei den Grünen könnte es Bewegungen geben, und die CDU könnte bei einem hammerharten Nein die hammerharte Lügen-Kampagne starten, falls es irgendwann doch Annäherungen an die Linke geben würde.

Seit dem Desaster in Hessen könne die Partei erklären, was sie wolle, es glaube ihr in dieser Frage doch keiner mehr, sagt ein führender Sozialdemokrat. Außerdem hat ein Insider der Linken der SPD-Spitze geraten, Rot-Rot-Grün nicht vollkommen abzulehnen, weil das seine Parteifreunde in NRW im Wahlkampf ganz heiß machen würde. Manchmal ist Politik unübersichtliches Gelände. Was hätte Krafts früh verstorbener Vater zu alledem gemeint? Sie glaubt, er hätte "ein Stück weit Angst um mich gehabt". Und vielleicht gesagt: "Das ist ja auch 'ne Schlangengrube".

© SZ vom 30.4.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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