Verfassungsreform:Die Türkei verabschiedet sich von Europa

Das Parlament in Ankara hat sich selbst entmachtet. Das Land wird zu einer islamisch gefärbten Autokratie - Europa darf sich keine Illusionen machen.

Kommentar von Luisa Seeling

Gebrochene Nasen, Abgeordnete, die blutend aus dem Plenarsaal getragen wurden, eine Parlamentarierin, die sich an das Rednerpult kettete - im türkischen Parlament haben sich zuletzt unglaubliche Szenen abgespielt. Nun hat man sich dort auch früher gelegentlich geschlagen, doch diesmal war der Kampf buchstäblich existenziell: Das Parlament debattierte über seine Selbstentmachtung. Und beschloss am Wochenende ebendiese, gegen den erbitterten Widerstand von Teilen der Opposition.

Das Tieftraurige daran ist: Mehr als drei Fünftel der Abgeordneten haben den Systemwechsel mitgetragen, sie haben sich selbst zu einem Marionetten-Parlament degradiert, dessen Fäden ein Mann allein in der Hand hält: Recep Tayyip Erdoğan.

Noch gibt es keine endgültige Entscheidung. Erst muss im Frühjahr das Volk in einem Referendum befragt werden. Doch unabhängig davon, wie das Ergebnis lautet - und es ist gut möglich, dass es zu Erdoğans Gunsten ausfällt, er hat bisher noch jede Wahl und jedes Referendum für sich entscheiden können -, ist der Beschluss des Parlaments eine Zäsur. Sollte die neue Verfassung kommen, läge alle Exekutivgewalt in Erdoğans Händen. Die Gewaltenteilung wäre ausgehebelt. Die parlamentarische Demokratie in der Türkei, sie wäre wohl am Ende.

Dabei hat sie dort durchaus Tradition. 1920 ließ Atatürk, Gründer der modernen Türkei, die Große Türkische Nationalversammlung erstmals zusammentreten, in den Fünfzigerjahren endete das Einparteiensystem. Schritt für Schritt hat sich das Land die parlamentarische Demokratie erkämpft, wobei die Defizite gewaltig blieben: Mehrmals griff das Militär blutig ein, bis heute werden Minderheiten unterdrückt und Menschenrechte missachtet.

Die Türkei war immer ein Land extremer, aber auch lebendiger Widersprüche. Zwar muslimisch - aber auch mit starker Westbindung. Einerseits immer wieder von Gewalt und Chaos geschüttelt - andererseits erstaunlich stabil. Hier ein Staat, den die Bürger zu schützen haben und nicht etwa umgekehrt - da demokratische Institutionen und eine mitunter hochmobile Zivilgesellschaft.

All diese scharfen Widersprüche auszuhalten, war oft schmerzhaft für das Land. Doch sie verschafften ihm auch eine Sonderrolle in der Region und machten die Türkei interessant als Partner des Westens. Erdoğan begann schon vor Jahren, die strikte Westbindung, die Atatürk vorgegeben hatte, aufzulockern. Er öffnete die Türkei in Richtung Nahost, ohne sich jedoch ganz von Europa abzuwenden.

Ankara bewegt sich auf eine islamisch gefärbte Autokratie zu

Nun aber sollen alle Widersprüche einseitig aufgelöst werden, zugunsten einer zentralistischen, islamisch gefärbten Autokratie, die sich vom Westen entfernt. Die Türkei hört auf, eine etwas schlechtere europäische Demokratie zu sein, künftig ist sie nur mehr ein besseres Ägypten, eine nicht ganz so brutale Diktatur nahöstlicher Prägung. Oder auch russischer Prägung: Erdoğans Präsidialsystem erinnert an Putins Präsidenten-Rochade-Tricks.

An den Grundfesten der Republik rüttelt Erdoğan auch in der Außenpolitik. Die Nato-Mitgliedschaft war ein Eliten-Projekt, stand aber nie ernsthaft zur Debatte. Die Anbindung an die USA und vor allem an Europa war Ausdruck des türkischen Selbstverständnisses, Teil des Westens zu sein. Heute haben sich beide Klammern gelockert. Der Beitrittsprozess ist faktisch gestoppt. Die Türken haben das Interesse verloren, die EU hat ihrerseits Chancen vertan. Nun hat sie keinen Hebel mehr, um Ankara zu demokratischen Reformen zu bewegen.

Die Politik der EU muss pragmatischer werden

Schlimmer noch: Erdoğan und die Türken, die hinter ihm stehen, können sich zurzeit einreden, dass sie sich gar nicht mehr auf den Westen zubewegen müssen, indem sie demokratisch werden. Vielmehr umgekehrt: Der Westen bewegt sich auf die Türkei zu, indem er autoritärer wird. Plötzlich scheint nicht mehr ganz klar zu sein, wo in dieser Geschichte vorn und hinten ist.

Für die EU bedeutet dies, dass sie in ihrer Politik gegenüber der Türkei pragmatischer werden muss, aber auch illusionsloser. Sie muss die türkische Regierung dort zu packen kriegen, wo es um handfeste Interessen geht. Wirtschaftliche, zum Beispiel: Die EU ist noch immer der wichtigste Handelspartner des Landes. Die Reform der Zollunion und die Frage der Visa-Liberalisierung bieten Verhandlungsspielraum.

Vor allem aber muss sich Europa - besonders Deutschland - viel intensiver um die Türken kümmern, die hier leben. Die Zerrissenheit dieser Diaspora wird mit den aktuellen Entwicklungen noch zunehmen. Denn während sich die Türkei von Europa entfernt, bleiben die Türken in Berlin, Amsterdam oder Paris Teil Europas. Sie sind bis auf Weiteres die einzigen Türken, die in einer Demokratie leben.

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