Streit um die Integration:"Sarrazin missachtet die Leitkultur"

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Wieso nur bezieht sich SPD-Chef Sigmar Gabriel auf die "deutsche Leitkultur", um das Parteiausschlussverfahren gegen Thilo Sarrazin zu rechtfertigen? Die aktuelle Debatte wäre besser geeignet, diese Idee zu kritisieren.

Markus C. Schulte von Drach

Thilo Sarrazins Menschenbild, so kritisiert SPD-Chef Sigmar Gabriel in der Mittelbayerischen Zeitung, missachte die deutsche Leitkultur.

Der Bundesvorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel, hält das Menschenbild von Thilo Sarrazin für unvereinbar mit den Werten der Sozialdemokraten - und der deutschen Leitkultur. (Foto: ddp)

Da ist er wieder, dieser Begriff, der seit zehn Jahren regelmäßig auftaucht, auf heftigen Widerstand stößt und wieder in der Versenkung verschwindet. Verwendet wurde er bislang vor allem von Politikern der CDU und CSU, und seit 2007 steht er im Grundsatzprogramm beider Parteien.

"Das Bekenntnis zur Leitkultur und die Identifikation damit ist eine Voraussetzung für erfolgreiche Integration", heißt es bei der CDU. Und die CSU erklärt genau, was man in konservativen Kreisen darunter versteht: Sie besteht demnach aus der Sprache, Geschichte und Tradition der deutschen Kulturnation und den christlich-abendländischen Werten.

Vor diesem Hintergrund will die CSU mit Nachdruck die "verbindlichen Werte" wie "die Einhaltung der Menschenrechte, das Bekenntnis zum Rechtsstaat, das Eintreten für die freiheitlich-demokratische Grundordnung und die Gleichberechtigung von Mann und Frau" vertreten.

95 Prozent aller Christdemokraten, so erklärte Familienministerin Kristina Schröder kürzlich, betrachteten die Leitkultur als Bestandteil der konservativen Haltung. Immigranten, so die Forderung der christlichen Politiker, müssten diese Werte respektieren.

Die Frage drängte und drängt sich auf, warum die christlichen Parteien Werte wie die Menschenrechte oder die Gleichberechtigung zum Teil der deutschen Leitkultur erklären müssen, obwohl sie im Grundgesetz stehen und schon lange von großen Teilen der Menschheit weltweit hochgehalten werden.

Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat einmal versucht, den Begriff Leitkultur zu definieren. Es sei eine Binsenweisheit, erklärte er, dass "jede Gesellschaft einen Mindestbestand an gemeinsamen Überzeugungen und Orientierungen brauche, ohne die ihre Regeln und gesetzlichen Rahmenbedingungen auf Dauer nicht funktionieren könnten". Inhaltlich war Lammert nicht zu widersprechen. Ob man für diese Binsenweisheit den Begriff Leitkultur bemühen muss, wurde zu Recht in Frage gestellt.

Die SPD hatte das Konzept der Leitkultur denn auch immer abgelehnt und einen "Dialog der Kulturen" propagiert. Für das "Einwanderungsland Deutschland bräuchte man eine Kultur der Anerkennung und des Respekts über kulturelle Unterschiede hinweg", hieß es dort. Eine Koexistenz der Lebensformen sei wünschenswert, aber auch eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur. Fromme Wünsche sehen darin Kritiker des Multikulti-Gedankens, und warnen, statt einer Koexistenz könnte es zur Ghettoisierung verschiedener Gruppen kommen.

Doch es ist schwierig für die Anhänger der deutschen Leitkultur, ihre eigenen Vorstellungen zu rechtfertigen, wenn man sie auf die historischen gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland aufmerksam macht.

Konstante angeborene nationale Eigenschaften

Marion Gräfin Dönhoff hat zum Beispiel zu Recht darauf hingewiesen, dass der Begriff gewissermaßen konstante angeborene nationale Eigenschaften unterstellt. "Wie ist denn dann der Wandel der deutschen Mentalität von der Entdeckung der Vernunft während der Aufklärung über die Romantik, den Wilhelmismus und Hitler zur heutigen Demokratie zu erklären?" Das gesellschaftliche Verhalten, so Dönhoff, werde durch Erfahrungen, philosophische Strömungen, gesellschaftspolitische Normen der Zeit und Traditionen bestimmt.

Ohne angeborene nationale Eigenschaften - und jeder Genetiker wird bestätigen, dass es solche nicht gibt - ist die Rede von der deutschen Leitkultur deshalb sinnlos, überflüssig, missverständlich und irreleitend. Thilo Sarrazin allerdings hat als Ursache für die Probleme der Integration von Einwanderern in Deutschland gerade die Faktoren Vererbung und menschliche Gene angeführt.

"Dieses Menschenbild ist es, das mit den Werten der SPD nicht vereinbar ist", sagte Sigmar Gabriel - um dann ausgerechnet den Begriff der deutschen Leitkultur für die SPD zu entdecken Diese, so erklärt der SPD-Chef der Mittelbayerischen Zeitung, "steht nämlich in der Verfassung und da heißt es in Artikel 1: 'Die Würde des Menschen ist unantastbar.'"

Vielleicht versucht Gabriel auf diese Weise, einer erneuten Debatte über die deutsche Leitkultur von vornherein einen Riegel vorzuschieben, indem er sie mit dem Grundgesetz identisch erklärt. Doch was er sagen will, hätte er auch klar und deutlich formulieren können, ohne eine erneute Leitkultur-Debatte anzuregen: Das Grundgesetz gilt für jeden, der Teil der Gesellschaft innerhalb der Grenzen Deutschlands sein möchte. Für Thilo Sarrazin genauso wie für die Immigranten. Und wer das anders sieht, hat in der SPD nichts zu suchen.

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