SPD-Parteitag:"Wollen wir gestalten oder nicht?"

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SPD-Chef Schulz fordert seine Partei auf, eine Zukunftsvision zu entwickeln, die begeistert. Doch viele an der Basis befürchten, dass dafür zu wenig Zeit bleibt - erst recht bei einer neuen Regierungsbeteiligung.

Von Anna Dreher, Berlin

Schon die Anrede hat einen gewissen Nachdruck. Liebe SPD, steht auf einer großen weißen Stellwand in roten Lettern, wir müssen reden. Und während Martin Schulz am Donnerstagmittag im Saal des Parteitages der Sozialdemokraten intensiv am Reden ist, beschreiben ein paar Meter weiter entfernt andere Zettel, um ihrer Stimme Geltung zu verschaffen.

"Der SPD fehlt die eigene Gesellschaftsvision, wie soll sie so regieren?", steht da, und: "Erst einmal sich selbst finden"; "Beschluss ist Beschluss" oder: "Hab' schon eine Mutti." Die meisten Zettel wurden von Jusos geschrieben und viele von ihnen sehen in einer großen Koalition mit der Union keinen Fortschritt, sondern eine Stärkung des rechten politischen Randes, eine weitere Schwächung des eigenen Profils oder gar politischen Selbstmord. Der Redebedarf ist also groß.

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Sozialdemokraten lamentieren am liebsten darüber, was sie nicht erreicht haben. Es wäre höchste Zeit, dass man in der SPD nicht nur die Partei, sondern auch die Mentalität erneuert.

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"Die Situation gerade ist frustrierend. Wir schlittern von einem schlechten Wahlergebnis ins nächste und tun so, als ob nichts passiert wäre", sagt Annika Klose, Berliner Landesvorsitzende der Jusos. "Ich frage mich, ob unsere Führung überhaupt verstanden hat, was in dieser Partei gerade passiert. Die Existenz der SPD ist so bedroht wie noch nie." Von den Grundwerten sei zu wenig zu spüren. Die SPD müsse sich erst einmal wieder finden, neu ausrichten und wieder progressive Politik machen - nur sei das im Bund mit den Konservativen nicht möglich.

Schulz fordert seine Partei auf, eine Zukunftsvision zu entwickeln

Klose ist Teil der Zukunft der Partei. Die größte Sorge von Mitgliedern wie ihr ist, dass mit der SPD das passiert, was die Sozialdemokratie in Frankreich oder Griechenland bereits erlebt hat: das Abrutschen in die Bedeutungslosigkeit. Während Klose spricht, diskutieren ein paar Meter weiter Genossinnen und Genossen miteinander. Es sind jene Gespräche, die in ihrer Intensität von allen gelobt werden. Im Ansatz, ist immer wieder zu hören, sei die Bereitschaft da, sich grundsätzlich zu hinterfragen und neue Ideen einzubringen. Das tue der Partei gut. Das sei nötig. "Aber jetzt, wo wir wieder in die Regierung streben, fühlen sich viele vor den Kopf gestoßen", sagt Klose. "Ist unser Entwicklungsprozess denn nichts wert?"

Parteichef Martin Schulz fordert in seiner Rede dazu auf, eine Vision der Zukunft zu entwickeln, die begeistert und Wählerinnen und Wähler von der SPD überzeugt. Dass genau das nicht gelingt, befürchtet die Basis. Vor allem das Glaubwürdigkeitsproblem treibt sie um. Dass man die Chance der Neuausrichtung nun womöglich nicht wahrnimmt und sie vielleicht endgültig verpasst. Dass man erst festgestellt hat, so kann es mit der SPD nicht weitergehen - und doch genau so weitermacht.

"Die SPD ist zu einer reaktiven Partei geworden und in ihren Reaktionen verunsichert", sagt Sönke Pörksen, seit 1973 Mitglied. "Man hätte darauf vorbereitet sein müssen, auch zu scheitern. Aber das waren wir nicht." Er plädiert für eine Kenia-Koalition aus Union, SPD und Grünen. Keiner habe ihm bisher stichhaltige Argumente dagegen nennen können. "Das wird aber auch gar nicht richtig diskutiert. Warum?", sagt der Flensburger. "Die vermeintliche Lösung GroKo ist doch das Problem. Dann ist die SPD gelähmt und nicht die Partei, die sie sein will."

Ein Kampf um Glaubwürdigkeit wäre ohne Inhalte nicht möglich

Welche Partei will die SPD eigentlich sein? Was deutlich herausklingt, egal ob Juso oder gestandener Sozialdemokrat: Die Mitglieder wollen mit der Zeit über Inhalte reden, über alte Werte und neue Ideen. Und das wieder mit mehr Selbstbewusstsein. Dass dies in der großen Koalition nicht möglich ist, vertreten die Jusos leidenschaftlicher als die Älteren. "Diese Situation ist schon außerordentlich, aber die Frage bleibt: Wollen wir gestalten oder nicht?", sagt Inka Damerau aus Hamburg. "Um mit voller Kraft zu regieren, müssen wir aber erst neue Kraft sammeln." So niederschmetternd wie das Wahlergebnis war, müsse man jetzt über alle Konstellationen sprechen.

Als sich die Abstimmungen an diesem Tag zu ihrem Ende neigen, als die große Mehrheit Schulz folgt, ihn als Parteichef bestätigt und ergebnisoffene Gespräche mit der Union führen will, ist bei Jan Dieren eine gewisse Enttäuschung zu spüren. Schulz' Rede eingerechnet wurde mehr als sechs Stunden debattiert. "Das Ergebnis bedeutet, dass die SPD weiter über die GroKo diskutieren und weniger Energie für eine tiefe Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie haben wird", sagt der stellvertretende Bundesvorsitzende der Jusos. Durch das Ergebnis ändere sich nichts daran, dass man sich inhaltlich, organisatorisch und personell neu aufstellen müsse. Diese Forderungen hätten aber nie ein Rütteln an Martin Schulz als Parteivorsitzenden impliziert: "Wir glauben ihm, dass ihm an einer Neuaufstellung der SPD gelegen ist. Bei ihm ist das nicht nur eine Floskel, er meint es ernst und er nimmt auch uns Jusos ernst."

Die Währung, in der Politik gemessen wird, sagen an diesem Tag immer wieder junge und alte SPD-Mitglieder, sei Glaubwürdigkeit. Der Eindruck drängt sich auf: Sie haben das Gefühl, bald nicht mehr bezahlen zu können. Für viele noch schlimmer scheint die Vorstellung zu sein, keine Antworten mehr auf die Fragen der Gegenwart geben zu können. Ohne Inhalte wäre ein Kampf um Glaubwürdigkeit gar nicht erst möglich.

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