SPD-Mitgliedervotum zur großen Koalition:Die zweite Wahl ist spannender

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Auszählung der SPD-Stimmen: Bald hat die Warterei ein Ende. (Foto: dpa)

Während die SPD noch zählt, zeigt sich: Der Wahlkampf zum Mitgliedervotum war spannender als sein großer Bruder im September. Der Staat verkraftet die Warterei. Und der Juniorpartner der neuen Koalition wäre stärker als es ihm eigentlich zusteht.

Ein Kommentar von Nico Fried

Nach der Wahl ist vor der Wahl - selten traf diese Weisheit so unmittelbar zu wie in diesem Herbst, wenn auch nicht im ursprünglichen Sinne. Einige Wochen nachdem das Volk seine Vertreter für den Bundestag bestimmt hatte, standen die Mitglieder der SPD erneut vor einer Wahl: Große Koalition - Ja oder Nein? Das Mitgliedervotum folgte auf langwierige Verhandlungen von Union und SPD. Und alles zusammen hat zu der paradoxen Situation geführt, dass einer der triumphalsten Erfolge bei einer Bundestagswahl für Angela Merkel gleichwohl eine außergewöhnlich mühsame Regierungsbildung bedeutete.

Der Wahlkampf zum Mitgliedervotum war kleinformatiger, dafür aber spannender als sein großer Bruder im September. Die Sozialdemokraten diskutierten untereinander so leidenschaftlich über konkrete Politik, wie ihnen das einen ganzen Bundestagswahlkampf lang mit dem Gegner nicht gelungen war. Auch hat das Mitgliedervotum eine Debatte über Spielarten demokratischer Mitbestimmung ausgelöst, die den erstarrten Parteienstaat nur beleben kann. Und in Gestalt von Marietta Slomkas Interview mit Sigmar Gabriel gab es sogar ein TV-Duell.

Kann sich Deutschland so eine Hängepartei leisten? Angela Merkel hat jüngst gesagt, es sei vielleicht gar nicht schlecht, wenn es mal drei Monate lang keine neuen Gesetze gebe. Richtig ist, dass das Land die Warterei verkraftet, ohne dass der Staat ins Wanken gerät. Bei manchem Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag wünschte man sich sogar, dass die Warterei nie endet, damit die große Koalition nicht wieder da anknüpfen kann, wo sie 2009 aufgehört hat. Damals beschloss sie eine Rentengarantie und hebelte das geltende Gesetz aus - zugunsten der Alten. Die neue Koalition will nun als Erstes die Senkung der Rentenbeiträge stoppen, wieder mit einer Gesetzesänderung - wieder zu Lasten der Jungen. Man sieht daran, dass Rechtssicherheit ohne richtige Regierung sogar größer sein kann als mit.

SPD hat Status eines fast gleichwertigen Partners

Das Ausland dürfte mit Befremden auf die Berliner Gemächlichkeit schauen. Vor allem Krisenstaaten nehmen keine Rücksicht auf gruppendynamische Prozesse deutscher Parteien. Der Konflikt in der Ukraine ist zudem ein gutes Beispiel dafür, dass die Legitimität einer geschäftsführenden Regierung an Grenzen stößt. Ist der Solidaritätsbesuch von Guido Westerwelle auf einer Demonstration der ukrainischen Opposition - so lauter die Motive waren - angesichts der außenpolitischen Tragweite noch vertretbar, wenn der Minister abgewählt ist und seine Partei nicht einmal mehr im Bundestag sitzt?

Nun aber soll es ja endlich richtig losgehen. Wenn die Auszählung des SPD-Mitgliedervotums den Weg ebnet, entsteht eine schwarz-rote Koalition, in der die Kräfteverteilung nicht mehr den Mehrheitsverhältnissen des Wahlabends entspricht. Angela Merkel hat darauf verwiesen, dass der Zugewinn von acht Prozentpunkten für die Union einer der größten Sprünge war, den es bei Bundestagswahlen je gab. Doch so knapp sie an der absoluten Mehrheit vorbeischrammte, so hoch war der Preis, den Merkel entrichten musste, um einen brauchbaren Koalitionspartner zu gewinnen.

Es spricht für die Kanzlerin, dass sie zugunsten einer stabilen Regierung der SPD den Status eines fast gleichwertigen Partners zugestanden hat, vor allem in Sachfragen wie dem Mindestlohn. Erst dieses Entgegenkommen macht aus Schwarz-Rot das, was man herkömmlich unter einer großen Koalition der Volksparteien versteht. Das Wahlergebnis gab diese Augenhöhe nicht her, weil die Wähler in der SPD keine Volkspartei mehr sahen. Dass die große Koalition, was ihre Übermacht im Parlament angeht, sogar zu groß ist, bleibt ein Problem - wobei diesen Umstand die Grünen am lautesten beklagen. Mit mehr Mut hätten sie die Chance gehabt, andere Mehrheiten herzustellen.

Wenn die SPD-Mitglieder die Regierungsbeteiligung billigen, machen sie zugleich Sigmar Gabriel zum unangefochtenen Anführer. Der Parteichef, der einen beträchtlichen Anteil am katastrophalen Wahlergebnis trägt, hätte es dann nicht nur geschafft, eine große Koalition in der SPD überhaupt wieder denkbar zu machen. Er hat auch das richtige Prozedere dafür initiiert - nicht so sehr wegen des Mitgliedervotums an sich, sondern wegen des damit verbundenen Zeitgewinns. Erst nachdem alle Tränen geweint waren, konnte die SPD den Realitäten der Politik wieder ins Auge blicken.

Ein starker SPD-Vorsitzender wäre der wichtigste, ja entscheidende Unterschied zur letzten großen Koalition 2005. Damals verabschiedete sich Franz Müntefering als Parteichef mitten in den Koalitionsverhandlungen, sein Nachfolger Matthias Platzeck kurz nach der Regierungsbildung. Dessen Nachfolger Kurt Beck lieferte sich mit dem Vizekanzler Müntefering ein Duell, das nicht nur keiner von beiden gewann, sondern aus dem die ganze SPD als Verlierer hervorging.

Für Gabriel droht einstweilen keine Gefahr von Hannelore Kraft oder Olaf Scholz. Die größte innerparteiliche Herausforderung besteht für ihn wohl darin, in vier Jahren Koalitionsalltag den Geist der Basisdemokratie in eine neue Flasche zu kriegen, auf deren Etikett steht: Regierungsfähigkeit.

Beim "Nein" wäre Gabriel als Parteichef erledigt

Merkels Lage ist nicht wirklich komfortabler. Sie hat in der ersten großen Koalition davon profitiert, dass sie das Regierungsgeschäft besser meisterte, als viele erwartet hatten. Damals wie später mit der FDP kamen ihr zudem stets Ungeduld, Missgunst und Streitereien beim Regierungspartner zugute. In ihrer dritten Amtszeit keimt nun solcher Samen im eigenen Lager. Von der Minute ihrer Vereidigung an werden zwei Fragen an der Kanzlerin kleben wie Kaugummi an der Schuhsohle: Wie lange noch? Wer dann? Wenn die SPD klug ist, wartet sie mit der Debatte um ihren Kanzlerkandidaten, bis die Union sich über ihren zerlegt.

Und was passiert, wenn die SPD-Mitglieder die Koalition ablehnen? Gabriel bliebe nur das Verdienst, der Basis zu ihrem Recht verholfen zu haben. Das aber würde nicht aufwiegen, dass sich die SPD auch gegen ihn entschieden hätte. Gabriel hat sich für manches Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag eingesetzt, aber nicht zuletzt auch gegen die Larmoyanz gekämpft, mit der manche Genossen Rot-Rot-Grün, eine Minderheitsregierung oder Neuwahlen fordern. Gabriel wäre als Parteichef erledigt - nicht, weil er eine Abstimmung verloren hätte, sondern weil er nicht mehr Chef einer SPD sein könnte, die politisch völlig anders tickt als er.

Angela Merkel würde erneut mit den Grünen sprechen. Ausgang offen. Die Wahrscheinlichkeit nähme zu, dass eine alte Weisheit wieder im ursprünglichen Sinne gelten würde: Nach der Wahl ist vor der Wahl.

© SZ vom 14.12.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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