Spaniens Gesundheitssystem:Radikalkur für das "kränkste Volk Europas"

Ärzte und Krankenschwestern protestieren in Spanien gegen Kürzungen im Gesundheitswesen

In ihren weißen Kitteln protestieren sie gegen die Kürzungen: Seit November gehen jede Woche Tausende Ärzte und Krankenschwestern in Madrid auf die Straße.

(Foto: REUTERS)

Jede Woche geht die "weiße Flut" in Madrid auf die Straße, Ärzte und Krankenschwestern demonstrieren gegen die Kürzungen im Gesundheitssystem - und in der Tat sind die Gehälter niedrig. Handlungsbedarf gibt es eher an anderen Stellen. Manch älterer Patient ruft den Krankenwagen statt eines Taxis.

Von Thomas Urban, Madrid

"Die weiße Flut wird größer", steht auf Plakaten, die die Demonstranten hochhalten. Gemeint sind die Proteste von Ärzten und Krankenschwestern gegen die Streichungen im spanischen Gesundheitswesen. Die meisten tragen über den Wintermänteln und gefütterten Anoraks ihre weißen Arztkittel oder Schwesternkleidung, daher der Name der Protestmärsche.

Mehrere Tausend nehmen seit Mitte November jede Woche an den Protestmärschen durch das Zentrum Madrids teil. Damals war bekannt geworden, dass ein Teil der Krankenhäuser sowie Ärztehäuser privatisiert werden soll. Mittlerweile steht auch fest, dass ein Großteil der Notaufnahmepunkte, in denen Ärzte in ländlichen Gegenden Bereitschaftsdienst leisten, nachts geschlossen bleiben soll. Die konservative Regierung in Madrid begründet die Maßnahmen mit den riesigen Defiziten des aus Steuermitteln finanzierten Gesundheitswesens.

Doch belegen Umfragen, dass die absolute Mehrheit der Spanier am bisherigen System festhalten möchte, obwohl sie mit den langen Wartezeiten nicht nur für Operationen und Therapien, sondern schon beim einfachen Arztbesuch überaus unzufrieden ist. Gegen die Regierung ziehen dabei Ärzte- und Patientenverbände gemeinsam an einem Strang. Es ist das einzige Thema, das die Nation weitgehend zu einen scheint. So hat das medizinische Personal in Hunderten Krankenhäusern in den vergangenen Wochen an Streikaktionen teilgenommen, die meist ein paar Tage dauerten.

Die meisten spanischen Ärzte, Krankenschwestern und -pfleger sowie Labormitarbeiter sind Angestellte des öffentlichen Dienstes und werden nach Tarif bezahlt. Das Gehalt eines Klinikarztes liegt bei rund 2500 Euro, das einer Krankenschwester bei 1200. Die Gehälter können durch Nacht- und Bereitschaftsdienste geringfügig aufgebessert werden. Fachärzte kommen einschließlich der Zusatzdienste auf kaum mehr als 3500 Euro. Das medizinische Personal befürchtet, dass die im europäischen Vergleich nicht üppigen Gehälter bei der Gesundheitsreform sogar noch beschnitten werden.

Finanzminister Cristobal Montoro, der bei dem Sparpaket die Federführung hatte, hat bislang keine klare Aussage dazu gemacht, er wiederholt lediglich bei jeder Gelegenheit: "Das System ist ineffektiv, schwerfällig und zu teuer." Die Gesundheitsreform läuft, so unterstellen die oppositionellen Sozialisten (PSOE), auf ein System von miteinander konkurrierenden Versicherungen hinaus. Ministerpräsident Mariano Rajoy versucht daher erst gar nicht, seinen Landsleuten die Reform als Verbesserung zu verkaufen, sondern sagt ganz direkt: "Wir Spanier stehen nicht mehr vor der Alternative, ob wir Opfer bringen wollen oder nicht. Wir haben ganz einfach nicht mehr diese Freiheit der Wahl."

Die Regierung hat den sozialen Sprengstoff erkannt

Immerhin hat die Regierung den sozialen Sprengstoff erkannt, der in der kommenden Teuerungswelle im Gesundheitssystem steckt. Wirtschaftsminister Luis de Guindos erklärte, die Beiträge der Bürger müssten nach sozialen Kriterien gestaffelt werden. Die Besserverdienenden müssten höhere Zuzahlungen zu einzelnen Behandlungen und vor allem zu den Medikamenten leisten. Für die untersten Einkommensgruppen sowie die Arbeitslosen sollten Krankenhausaufenthalte und Arztbesuche nach wie vor kostenfrei sein.

Nur die Deutschen gehen in Europa häufiger zum Arzt

Guindos sagte: "Es ist nicht einzusehen, dass jemand, der 100.000 Euro im Jahr verdient, hier nicht in die Verantwortung genommen werden soll." Zwar verfügt ein Teil der besser verdienenden Spanier über eine private Krankenversicherung. Doch bei besonders teuren Therapien, wie etwa Bestrahlungen bei Krebserkrankungen, verlassen sie sich auf das öffentliche Gesundheitssystem, um eine Erhöhung ihrer Versicherungssätze zu umgehen.

Für die Sozialisten dienen die Ankündigungen des Wirtschaftsministers aber nur dem Ziel, die Öffentlichkeit darüber hinwegzutäuschen, dass ärztliche Behandlungen in den Augen der regierenden Konservativen eine Dienstleistung wie jede andere seien. Diese Haltung sei zutiefst unmoralisch. Doch kann die PSOE die Privatisierungspläne im Parlament nicht blockieren: Die von Rajoy geführte konservative Volkspartei (PP) verfügt über die absolute Mehrheit.

Medikamentenlisten zur Kostensenkung

Gesundheitsministerin Ana Mato dementiert, dass am medizinischen Personal gespart werden solle. Die Privatisierung ziele vor allem auf den Abbau der aufgeblähten Bürokratie und die Vereinheitlichung des Gesundheitssystems ab. Allerdings braucht die Zentralregierung in Madrid hierzu die Regionen, denn diese sind dafür zuständig.

In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich die Systeme in den 17 Regionen immer weiter auseinander entwickelt. Der Leistungskatalog und auch die Medikamentenlisten weisen große regionale Unterschiede auf. Manche Regionen verzeichnen einen Therapietourismus, weil sie Leistungen übernehmen, die in der Nachbarregion ganz oder teilweise aus eigener Tasche bezahlt werden müssen. Hier möchte die PP eine Vereinheitlichung durchsetzen; zumindest in den zwölf Regionen, in denen sie jetzt regiert, wird ihr dies wohl gelingen.

Ein weiteres Kernstück der Maßnahmen zur Kostensenkung ist die Medikamentenliste, sehr zum Verdruss der Pharmakonzerne. Die Ärzte sind in Zukunft gehalten, das billigste Medikament aus einer Gruppe von Präparaten mit identischer Wirkung zu verschreiben. Auch soll der Krankenhausbedarf zentral eingekauft werden, um von den Produzenten größere Rabatte gewährt zu bekommen.

Doch auch die Vertreter der Pharmaindustrie sehen in der Teilprivatisierung im Gesundheitswesen einen Weg zur Behebung eines Missstandes, der vor allem sie betrifft: Da die meisten Regionen ihr Gesundheitsbudget in den vergangenen Jahren überzogen haben, werden Rechnungen für Medikamente oft mit großer Verzögerung bezahlt, im Durchschnitt dauert es etwas länger als ein Jahr. Laborrechnungen werden sogar erst nach anderthalb Jahren beglichen.

Zweites Kernstück sind die Zuzahlungen zu Medikamenten und Praxisbesuchen, von denen nur die Geringverdiener befreit sind. Auch Fahrten im Krankenwagen werden kostenpflichtig, falls kein Notfall vorliegt. In der Tat rufen namentlich ältere Patienten einen Krankenwagen, um Taxikosten zu sparen. Finanzminister Montoro erklärte, der jeweilige Satz, den die Patienten zu entrichten hätten, könnte sich auch hier nach dem zu versteuernden Einkommen richten.

Die Spanier liegen mit durchschnittlich acht Arztbesuchen pro Jahr auf dem zweiten Platz in Europa, nach den Deutschen mit neun Besuchen. Auch gehören sie zu den Spitzenverbrauchern von Medikamenten, Spanien hat das dichteste Apothekennetz in der EU. Experten, die in der konservativen Presse zu Wort kommen, verweisen darauf, dass die Spanier den Statistiken zufolge "das kränkste Volk Europas" seien. Die Zuzahlungen würden manchen Bürger von einer unbegründeten Krankmeldung abhalten und wohl auch den übertriebenen Tablettenkonsum zurückgehen lassen. Der nationale Krankenstand werde sich auf diese Weise wieder auf europäische Durchschnittswerte einpendeln.

In der Opposition sieht man es umgekehrt: Ein bewährtes System werde zerschlagen. Der Effekt, den die PSOE-Gesundheitsexperten befürchten: "Wir werden das kränkste Volk Europas." Die "weiße Flut" soll immer größer werden - bis die Regierung einlenkt. Doch gibt es bislang wenig Anzeichen dafür, dass sie dies tun wird.

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