Sexueller Missbrauch:Trieb, Trauma und Kind

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Die Erlebnisberichte jener, die als Kind missbraucht wurden, werden immer detaillierter. Aber was genau ist sexueller Missbrauch? Und was, wenn die Erinnerung trügt?

Martin Z. Schröder

In der öffentlichen Diskussion, anders als im erzieherischen Alltag, scheint kaum Klarheit darüber zu bestehen, welche Form der Nähe zwischen Erwachsenen und Kindern als normal angesehen werden soll, wo der Übergriff beginnt und ob und welche Folgen solche Übergriffe nach sich ziehen können.

Der Bremer Soziologe Michael Schetsche bemerkt zu den Zweifelsfällen in dem 1994 erschienenen Sammelband Handbuch sexueller Missbrauch: "Die gleiche Interaktion zwischen einem Erwachsenen und einem Kind kann als 'normal' akzeptiert, als 'Pädophilie' begrenzt toleriert oder als 'Triebverbrechen' bzw. 'sexuelle Gewalt' moralisch verurteilt und rechtlich verfolgt werden." Was versteht man eigentlich unter sexuellem Missbrauch von Kindern? Wenn man über den Begriff der rohen Gewalt hinausgeht, wird die Definition kompliziert.

Kinder sind keine asexuellen Wesen. Eltern kennen die Zeichen kindlicher Sexualität, die in der Fachliteratur dargestellt wird. René Spitz, der Begründer der psychoanalytisch-empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung in den dreißiger Jahren, hat als Erster "genitale Spiele" von Säuglingen beschrieben.

Enger Körperkontakt, Streicheln, Kuscheln und eine ausgiebige Reinlichkeitsprozedur für Kinder werden als Voraussetzungen für eine gesunde Sexualentwicklung angesehen. Wenn also die normale körperliche Interaktion zwischen Kindern und Erwachsenen so schwer zu unterscheiden ist von der sexuellen Misshandlung, müssen weitere Kriterien in die Missbrauchs-Definition eingehen.

Der Berliner Erziehungswissenschaftler Reinhart Wolff schlägt eine Definition vor, die den Schaden zur Bedingung macht: "Die sexuelle Misshandlung ist eine unter Ausnutzung einer Macht- oder Autoritätsposition (erzwungene) sexuelle Aktivität eines Erwachsenen mit einem/r Minderjährigen in der Form der Belästigung, der Masturbation, des oralen, analen oder genitalen Verkehrs oder der Nötigung oder Vergewaltigung (also des angedrohten oder tatsächlichen gewaltsamen Verkehrs), die zu einer körperlichen oder seelischen Schädigung bzw. zu einer Entwicklungsstörung führt und die das Wohl und die Rechte eines/r Minderjährigen beeinträchtigt."

Während eine Verletzung am Leib durch den Gerichtsmediziner noch relativ einfach nachgewiesen werden kann, wird es mit den seelischen Schädigungen und Entwicklungsstörungen schwierig, weil sie nicht nur durch sexuelle Misshandlung auftreten.

Der Forensiker Udo Undeutsch hat die richtige Beweisführung theoretisch dargestellt: "Es findet sich das Merkmal A bei erwiesenermaßen sexuell missbrauchten Kindern statistisch signifikant häufiger als bei nach menschlichem Ermessen und allen erhobenen Befunden nicht missbrauchten Kindern." Dieses Merkmal sei dann noch kein Beweis, doch immerhin ein Anhaltspunkt für einen Missbrauchsverdacht. Symptome, die ausschließlich bei sexuell misshandelten und nie bei nicht misshandelten Kindern vorkommen, gebe es aber nicht, so der Forscher.

Wenn ein Erwachsener einen vierzig Jahre alten Fall sexueller Misshandlung beklagt, können Defizite der eigenen Persönlichkeitsentwicklung nicht die Beweise sein, als die sie angeführt werden, weil sie auch anders verursacht worden sein können: beispielsweise durch Vernachlässigung, Prügelstrafen, Spannungen im sozialen Gefüge wie in Scheidungsfamilien oder unter Schülern.

Andererseits ist es natürlich ebenso möglich, dass die Berichte wahr sind und die Traumata erheblich. Wie soll also mit dem Vorwurf gegen Einrichtungen und Personen vernünftigerweise umgegangen werden? Mit immer neuen Erlebnisberichten, möglichst literarisch verfeinert für den Genuss des Lesers?

Kann das wirklich die Grundlage sein, auf der Beschuldigungen öffentlich gemacht und moralische Urteile gefällt werden, aus denen mancher jetzt schon der Kirche und der Reformpädagogik Stricke dreht? Können Erfahrungsberichte allein zu Entschädigungszahlungen führen? Und ist den Betroffenen, wenn ihre Berichte, präzise erinnert, auf Tatsachen fußen, mit öffentlicher Wut gedient?

Bevor die Suche nach Schuld und das Verurteilen von Schuldigen beginnen, müsste eine valide Darstellung des lange zurückliegenden Geschehens vorliegen. Wie schwer das schon in aktuellen Verfahren ist, haben die psychologischen Gerichtsgutachter Susanne und Heinz Offe beschrieben. So gibt es keine wissenschaftlich begründeten standardisierten Testverfahren für sexuelle Misshandlung; vielmehr interpretieren Gutachter alle Informationen, an welche sie in Akten und Gesprächen gelangen.

Wenn die Experten mit der Beweisführung beauftragt werden, ist der Fall, ob wahr, teilweise wahr oder phantasiert, bereits durch vielfältige Gespräche und Situationen weiterkonstruiert worden, weil die Interpretationen aller Beteiligten in die Aussagen der Zeugen einfließen.

Wie stark Zeugenberichte schon in Straßenverkehrsdelikten variieren, ist bekannt. Und wie erfolgreich Suggestionen auf Kinder wirken, wissen Eltern und Pädagogen aus dem Erziehungsalltag, in dem sie ihre Kinder geschickt und sinnvoll manipulieren ("Ein Löffel für die Oma ..."). Gerichtspsychologen beziehen deshalb die Glaubwürdigkeitsbegutachtung in ihre Untersuchung ein. So sehen nun die komplizierten Vorgänge bei der Untersuchung von aktueller oder nicht weit zurückliegender Kindesmisshandlung aus, und selbst Gutachter kommen dabei nicht immer zu eindeutigen Befunden.

Manchmal ist die Wahrheit nicht zu ermitteln. Noch schwieriger ist es, einen Vorgang zu untersuchen, der Jahrzehnte zurückliegen soll, wenn kein Geständnis vorliegt. Man kennt es auch aus anderen Lebensbereichen, dass zwei Menschen sich genau und überzeugt auf ein lange zurückliegendes Ereignis zu besinnen meinen und dann feststellen müssen, dass ihre "Erinnerungen" stark voneinander abweichen.

Meldungen über unbewiesene sexuelle Misshandlungen sind also mit Vorsicht zu lesen. Zumal wenn diese Nachrichten Blüten treiben wie die über einen Knabenchor: Unter der Überschrift "Missbrauch" wird berichtet, vor fünfzig Jahren hätten Erzieher "nackten Schülern" unter der Dusche "Tipps" für die Intimhygiene gegeben. Daraus kann eine Traumatisierung entstanden sein, der Bericht allein indessen ist keineswegs ein eindeutiger Beweis dafür.

Wenn in der Öffentlichkeit das Thema ernsthaft und mit Erkenntnisgewinn besprochen werden soll - der vielleicht darin bestünde, welche Art von Nähe dem Kindeswohl zuträglich ist und welche ihm schadet -, dann tragen unaufgearbeitete Erfahrungsberichte, Anklagen in den Medien und Aufregung nichts dazu bei. Sie legen vielmehr die Frage nahe, ob andere Interessen verfolgt werden als die Heilung von Untaten oder der Kinderschutz.

Der Autor ist Schriftsteller, Journalist und Betreiber einer Druckerei in Berlin. Er ist diplomierter Sozialpädagoge und hat eine Fortbildung im Berliner Kinderschutzzentrum absolviert.

© SZ vom 23.03.2010/leja - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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