Roth und Gabriel auf dem Grünen-Parteitag:Spitzenkandidaten der Herzen

Bundesparteitag Bündnis 90/Die Grünen

Sigmar Gabriel (l.) und Claudia Roth auf dem Grünen-Parteitag

(Foto: dpa)

Endlich Stimmung im Velodrom: Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth hält die erste gute Rede des Parteitags. Die Messlatte für Gastredner Sigmar Gabriel liegt hoch, aber auch der SPD-Chef kommt in Berlin bestens weg. Haben Rot und Grün die falschen Spitzenkandidaten gewählt?

Von Michael König, Berlin

Sigmar Gabriel lächelt. Er muss lächeln, es sind ein Dutzend Kameras auf ihn gerichtet. Jürgen Trittin lächelt, Katrin Göring-Eckardt lächelt, 800 Delegierte lächeln und applaudieren. Gabriel kann jetzt nicht der Einzige sein, der nicht lächelt. Er ist ja ohnehin ganz allein.

Nie zuvor hat ein SPD-Parteichef auf einem Parteitag der Grünen geredet. Gabriel ist der erste. Ein Gast, ein Fremdkörper, unter strenger Beobachtung. Die Grünen machen ihm die Sache nicht gerade leicht: Sie haben Claudia Roth vor ihm auf die Bühne geschickt. Sie hat geliefert. Und wie. Gabriel: "Und ich bin jetzt die arme Sau die nach ihr reden muss."

Die Grünen-Vorsitzende hält die erste gute Rede des Parteitags. Eine polemische Rede, die hin und wieder ins Dadaistische abdriftet. Aber jetzt ist endlich Stimmung in der Bude. Auszüge:

  • "Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Bei der CSU kommt die Moral nicht mal nach dem nach dem Fressen!
  • Amigo lebt! Amigo lebt! Denen soll das Kruzifix von der Wand fallen!"
  • "Also liebe Frauen: Über sieben Brücken müsst ihr gehen, sieben Jahre Sack und Asche übersehen, dann kommt die Union mit dem hellen Schein und bringt die Quote."
  • "Wer ist die Kanzlerin eigentlich, und wenn ja, wie viele?"

Warum ist das nicht Trittin eingefallen, warum nicht Göring-Eckardt? Die eigentlichen Spitzenkandidaten der Grünen hatten am Freitag sterbenslangweilige Reden gehalten. Roth, die gerne selbst Spitzenkandidatin geworden wäre, aber in einer Urwahl überraschend unterlag, stellt sie in den Schatten.

Als sie die Bühne verlässt, umarmt sie Gabriel. Küsschen rechts, Küsschen links. Es steht jetzt 2:0 für sie. Vor zwei Wochen hatte sie den SPD-Parteitag in Augsburg aufgerüttelt, jetzt diese umjubelte Rede gehalten. Gabriel lächelt gequält.

Er macht das Beste daraus, er erinnert an Joschka Fischer, der sich selbst als "letzten Rock 'n' Roller der Politik" bezeichnet hatte: "Er soll mal herkommen und sich Claudia anhören!"

Gabriel gibt sich Mühe, Zweifel zu zerstreuen, die SPD nehme die Grünen nicht ernst. "Ihr seid eine besondere Partei", sagt Gabriel. "Ihr seid eine Partei mit eigenen Wurzeln und eigenen Prinzipien."

Die Klarstellung ist wohl nötig. Einigen Grünen macht die Nähe zur SPD Angst. Sie wollen das Schicksal ihrer Partei nicht an das von Peer Steinbrück knüpfen. Der glücklose Kanzlerkandidat der SPD kommt nicht aus dem Umfragetief heraus. Eine Initiative aus Frankfurt, die einen rot-grünen Treueschwur im Wahlprogramm abschwächen wollte, scheiterte zwar. Sie erhielt aber prominente Unterstützung von Schwarz-Grün-Sympathisanten wie dem bayerischen Landesvorsitzenden Dieter Janecek.

Gabriel geht auf das Misstrauen ein, gibt sich verständnisvoll. Gelassen bleiben sei die Lösung. "Das ist wie in einer normalen Beziehung. Bevor man in eine gemeinsame Wohnung zieht, schaut man sich ein bisschen um im Viertel, ob es nicht noch ne andere gibt. Das macht doch jeder!"

Das ist hart an der Grenze zum Altherrenwitz, aber sein grünes Publikum johlt wieder. Auch dass Gabriel die Grünen zur besseren FDP erklärt ("Ihr seid die wahren Liberalen") und vor vielen Vegetariern und Veganern über geschlachtete Tiere spottet ("Wer glaubt, dass die Männer in den Vorständen freiwillig Platz machen für Frauen, der glaubt auch, man könne mit Gänsen über Weihnachten diskutieren"), wird freudig begrüßt.

Selbst den neuesten Knackpunkt schafft Gabriel en passant aus der Welt: Die Grünen hatten sich am Freitag für den sofortigen Ausstieg aus der Kohleenergie ausgesprochen - entgegen der Meinung ihres Parteivorstands. Die SPD sieht Kohle offiziell als "Brückentechnologie", viele Sozialdemokraten sind der Kohleindustrie eng verbunden.

Gabriel macht auch daraus einen Scherz, als er sich mit dem alten Bergarbeiter-Spruch "Glück auf" verabschiedet, sich zu Roth umdreht und sagt: "Über die Kohle reden wir dann später, Claudia." Alles ganz locker.

Ein rot-grünes Problem kann Gabriel dann doch nicht aus der Welt schaffen: Peer Steinbrück. Der Kanzlerkandidat, den viele Grüne für eine Fehlbesetzung halten, findet in seiner Rede keine Erwähnung. Gabriel tut so, als gäbe es ihn nicht. Die Grünen nehmen das so hin. Sie stehen auf, um ihm zu applaudieren. So wie sie schon Claudia Roth gehuldigt haben. Claudia Roth und Sigmar Gabriel, an diesem Tag sind sie die eigentlichen Spitzenkandidaten des neuen rot-grünen Projektes.

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