Reform der Europäischen Union:Weiterbauen an der Heimat Europa!

Lesezeit: 7 min

Europa braucht eine Verfassung - doch zu welchem Preis? Müssen wir auf dem Weg nach Europa die wertvolle deutsche Verfassung aufgeben? Nein, man kann Europa gewinnen und zugleich das Grundgesetz bewahren. Beides mit mehr Demokratie.

Heribert Prantl

Die Dome und Kathedralen waren einst die trigonometrischen Punkte Europas. Alle Kunst des Kontinents fand dort ihre Form, ihre Gestalt und ihre Heimat - in Brüssel und Barcelona, in Antwerpen und Straßburg, in Wien und in London, in Magdeburg und in Uppsala, in Aachen, Kuttenberg, Burgos und Klausenburg. Aus dem Namen der Baumeisterfamilie Parler, welche die Dome und Münster zwischen Freiburg und Prag gebaut hat, soll sich das Wort Polier entwickelt haben.

Einen Entwurf für eine EU-Verfassung gibt es schon seit 2003 - über den herrschte aber Uneinigkeit. In Kraft trat später nur der Vertrag von Lissabon (2007). (Foto: dpa)

Man wünscht sich, dass es Poliere ihres Geistes und ihrer Kunstfertigkeit auch beim Bau des Hauses Europa gibt. Man wünscht sich, dass die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, wenn sie in wenigen Tagen über die Vereinbarkeit des Fiskalpakts mit dem Grundgesetz urteilen, dies in einem Bewusstsein tun, das über das kleine Karo hinausreicht.

An den alten Kathedralen wurde lange gebaut, manchmal unvorstellbar lange; am Kölner Dom 632 Jahre. Und wenn es mit dem Bau einmal schneller oder richtig schnell ging, wenn der Bau gar in einem Menschenalter fertig wurde, suchte man dafür eine irrationale Erklärung - dann war beim guten Werk der Teufel im Spiel.

Den Teufel überlistet

In vielen Dombau-Legenden wird also erzählt, wie der verzweifelte Baumeister, um endlich fertig zu werden, sich mit dem Bösen eingelassen hat. Er musste dem bocksfüßigen Subunternehmer als Entlohnung für seine Hilfe die Seele des ersten Lebewesens versprechen, das bei der Einweihung das Bauwerk betrat. Die Legenden berichten, wie es der menschlichen Schläue gelang, den Teufel zu überlisten - der mit einem König, einem Kaiser oder Bischof gerechnet hatte, aber dann mit einem Hund (wie in Regensburg) oder mit einem Wolf (wie in Aachen) vorliebnehmen musste.

Die bisherige Bauzeit für das Haus Europa ist, verglichen mit derjenigen der Dome und Kathedralen, sehr kurz; das Werk ist fortgeschritten, aber noch nicht fertig. Indes: Die Bauarbeiten stocken, die Bauleute sind unlustig, an der einen Stelle wird noch gebaut, an der anderen nur saniert, es wächst dort und es bröckelt da; und es gibt Befürchtungen, dass die Arbeiten bald ganz eingestellt werden müssen. Warum? Es liegt, wie immer, am Geld, und es liegt daran, dass das Haus Europa, anders als die Dome des Mittelalters, nicht mit Granit oder Marmor, sondern aus den Hoheitsrechten gebaut werden, welche die einzelnen Staaten liefern.

Das deutsche Grundgesetz, so sagen viele Verfassungsrechtler, verbiete ab sofort weiteren Transport von deutschem Hoheitsmaterial - weil schon so viel davon nach Europa geschafft worden sei, dass es nun an die Kernbestände gehe. Das Grundgesetz behüte diese Kernbestände als unantastbar. Das Bundesverfassungsgericht müsse daher nun einen Lieferstopp vorschreiben. Ein solcher Lieferstopp hätte dann einen Baustopp für das Europäische Haus zur Folge, weil die Deutschen dessen wichtigste Bauherren sind. So ein Baustopp ist eine heikle und gefährliche Angelegenheit. Beim Dom zu Köln dauerte er einst 300 Jahre.

Was kann man tun? Was muss man tun, um Europa weiterbauen zu können? Es gibt da einen teuflischen Vorschlag, einen, der an die mittelalterlichen Dombau-Legenden angelehnt zu sein scheint: Man müsse halt zur Fertigstellung des Hauses Europa eine Seele opfern, in der sich die deutsche Identität spiegelt - nämlich das Grundgesetz; dann falle auch das Transport- und Lieferverbot für das Baumaterial weg. Dieser Akt der Hingabe sei notwendig, auf dass das Haus Europa vollendet werden könne.

Exportschlager Grundgesetz: das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gibt es auch in türkischer und russischer Ausgabe. (Foto: dpa/dpaweb)

Vor eine solche Wahl gestellt, wird auch dem europäischsten Deutschen das Herz schwer. Gibt es Europa wirklich nur um den Preis des Grundgesetzes? Muss dieses Grundgesetz weggeworfen, muss eine ganz neue Verfassung geschrieben und darüber dann abgestimmt werden? Ist das der Preis, den die Deutschen für Europa zahlen müssen? Es wäre dies ein Preis, der noch höher ist als die Milliarden, die für Euro-Rettungsschirme und Fiskalpakte ausgegeben werden müssen.

Das Grundgesetz ist nämlich so etwas wie der Kronschatz der deutschen Demokratie. Er ist das viel bewunderte, in aller Welt kopierte Glanzstück des Konstitutionalismus und das Herzstück aufgeklärten deutschen Wesens. Dieses Grundgesetz ist im Lauf der Zeit an nicht wenigen Stellen verwässert und aufgebläht worden, aber es wird respektiert, geachtet, geehrt, ja geliebt. Muss man sich also als Deutscher für die Vollendung Europas entweder das Herz herausreißen- oder aber Europa als Zukunftsprojekt aufgeben?

Die deutschen Europäer, die sich für Europa das Herz herausreißen wollen, versuchen sich zu beruhigen und zu rechtfertigen. Man müsse halt einfach ein noch besseres, ein neues, ein wirklich europafreundliches Grundgesetz schreiben und dem Volk zur Abstimmung vorlegen. Diese Methode der Herztransplantation ist im letzten Artikel des Grundgesetzes, im Artikel 146, beschrieben. Auch der Autor dieses Textes hat immer wieder dafür geworben. Es gibt Argumente, mit denen man sich eine so riskante Operation schönreden kann. Das Grundgesetz ist schließlich in den vergangenen 63 Jahren schon fünf Dutzend Mal (!) geändert worden - warum sollte man es also nicht gleich durch ein ganz neues, dann auch unstreitig europataugliches Grundgesetz ersetzen?

Die meisten der bisherigen Änderungen des Grundgesetzes waren nicht zu seinem Vorteil. Die "lakonische Würde" der Urfassung (so der Berliner Staatsrechtler Christoph Möllers) ist dabei verloren gegangen. Das Grundgesetz ist heute nach Wörtern doppelt so lang wie 1949. Die deutsche Verfassung ist aufgegangen wie ein Hefezopf. Sie beginnt zwar immer noch bei Artikel 1 und sie endet immer noch bei Artikel 146, aber in Wahrheit hat das Grundgesetz mittlerweile 197 Artikel, weil zahlreiche Zwischenartikel eingefügt worden sind. Nur 83 der ursprünglich 146 Artikel, so hat der Staatsrechtler und frühere Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm gezählt, haben noch den alten Wortlaut.

Änderungen überfrachtet mit Details

Das müsste nun an sich nicht schlimm sein, weil Änderungen ja auch ein Zeichen sind, dass man die Verfassung ernst nimmt. Es ist es aber schlimm, weil die Änderungen überwiegend schlecht sind. Man lese im Grundrechtsteil die neuen Artikel 12 a, 13 oder 16 a: Sie sind überfrachtet mit Details. Der neue kleinkrämerische Asylartikel 16 a ist, dies als Exempel, vierzig Mal so lang wie sein Vorgänger. Er trägt die rigiden und flüchtlingsfeindlichen Ausführungsgesetze und Verwaltungsvorschriften schon in sich; beim neuen Artikel 13 (der den Lauschangriff in das Wohnungsgrundrecht eingefügt hat), ist es ähnlich. Die Neuregelungen "strukturieren nicht mehr politische Entscheidungen, sondern nehmen sie vorweg", klagt Dieter Grimm. Und er sagt: Käme man heute auf die Idee, die bisher in sechs Worte gefasste Rundfunkfreiheit zu präzisieren, würde vermutlich der halbe Rundfunkstaatsvertrag in den Verfassungsrang erhoben.

Kurz gesagt: Das Grundgesetz war auch schon einmal besser. Wir preisen eine partiell unverständlich gewordene, eine in Teilen verhunzte Verfassung. Markante Sätze mit Prägekraft sind von geschwätzigem und unverständlichem Verwaltungspalaver abgelöst worden.

Die erste Föderalismusreform von 2006 brachte das verfassungsrechtliche Bubenstück fertig, den Paragrafen 6 des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes als Artikel ins Grundgesetz zu schreiben. Und die zweite Föderalismusreform von 2009 presste den Inhalt eines Staatsvertrags hinein, der so unverständlich ist wie eine japanische Gebrauchsanweisung für einen DVD-Player. Mit dieser 2009er Reform kam auch die viel gepriesene Schuldenbremse ins Grundgesetz: Auf den Euro genau soll nun dem Verfassungstext entnommen werden können, wie viel Konsolidierungshilfe einzelne Länder aus dem Haushalt des Bundes vom 1. Januar 2020 an erhalten können. Welch ein Unsinn! Solche Details haben in einer Verfassung nichts zu suchen. Auf einen Text, den kaum mehr einer versteht, lässt sich Verfassungspatriotismus nicht mehr gründen.

All diese Verschlimmbesserungen konnten geschehen, weil an den Grundgesetzänderungen das Volk nicht beteiligt wurde; die Grundgesetzänderungen laufen in den Bahnen des normalen Gesetzgebungsgangs; wenn die großen Parteien sich einig sind (zumal dann, wenn sie gerade koalieren), gibt es - außer dem Verfassungsgericht - nichts und niemanden, was sie aufhalten kann. In Volksabstimmungen wäre der neue Verfassungs-Kauderwelsch nicht genehmigt worden - schon deswegen nicht, weil ihn keiner verstanden hätte. Keine Partei hätte sich getraut, so etwas zur Abstimmung zu stellen.

Dem Grundgesetz ist Schaden zugefügt worden, zumal in den vergangenen zwanzig Jahren. Es wäre aber eine seltsame Art der Schadensbeseitigung, deshalb das ganze Grundgesetz wegzuwerfen und eine völlige Neufassung, also ein ganz neues, ein nun angeblich besonders europataugliches Grundgesetz, ausgerechnet denjenigen politischen Kräften anzuvertrauen, die das alte Grundgesetz so beschädigt haben. Da gilt der alte Satz: Es kommt nichts Besseres nach.

Das Grundgesetz ist zwar malträtiert worden, aber es ist immer noch gut. Und vor allem: Diese Verfassung hat das Vertrauen der Menschen. Den Grundrechten dieses Grundgesetzes ist das Schönste widerfahren, was Grundrechten passieren kann: Sie sind die Alltagsbegleiter der Menschen geworden. Es wäre daher eine teuflische Alternative, entweder das alte angeblich europauntaugliche Grundgesetz zu opfern - oder aber auf das neue Europa zu verzichten. Diese Alternative stellt sich auch nicht in dieser Form. Niemand gebietet es, sich zwischen Europa und dem Grundgesetz zu entscheiden; das gebietet nur ein falscher Rigorismus, dem Juristen (wie auch der Autor dieses Textes einer ist) gerne verfallen.

Das Grundgesetz sperrt sich nicht gegen Europa, im Gegenteil; es ist quasi in die Europafahne eingewickelt. In seiner Präambel heißt es nämlich, das deutsche Volk sei vom "Willen beseelt", ein "gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa" zu sein. Und im Europa-Artikel 23 steht eine leider sehr technisch geratene neuere Gebrauchsanweisung dazu. Dieses Grundgesetz hat den Deutschen den Weg nach Europa gewiesen; es war der Kompass. Man wirft den Kompass nicht weg, nur weil man dem Ziel nahe ist. Einen Kompass braucht man immer wieder.

Europa braucht mehr Demokratie

Man kann Europa gewinnen und zugleich das Grundgesetz bewahren - beides mit mehr Demokratie. Europa braucht mehr Demokratie, das Grundgesetz auch. Europa braucht eine demokratische Verfassung, die zum Ausdruck bringt, dass bei der Addition von siebenundzwanzig Demokratien keine verkümmerte, sondern eine potente Demokratie herauskommt. Und in Deutschland muss endlich praktiziert werden, was im Grundgesetz steht, aber bisher nie beachtet worden ist: Die Staatsgewalt wird (nicht nur in Wahlen, sondern auch) in Abstimmungen ausgeübt. Eine solche Abstimmung muss es in nützlicher Frist über Europa geben, über ein demokratisch verfasstes Europa.

Es wird also künftig zwei Grundgesetze geben müssen: erstens ein neues europäisches Grundgesetz, nämlich ein EU-Organisationsstatut, in dem etwa das Verhältnis von Europäischem Parlament, Rat und Kommission gut geregelt wird. Und zweitens das alte deutsche Grundgesetz, das den Menschen ans Herz gewachsen bleibt, das Kraft und Geltung behalten muss. Es wird ein durch Plebiszite gebilligtes Neben- und Miteinander dieser Grundordnungen und Staatlichkeiten geben. Und beide Grundgesetze werden verbunden durch die Abstimmung und die Akzeptanz des Souveräns, also des Volkes. Deutschland braucht das Plebiszit; Europa braucht es auch.

Das Fundament des Europäischen Hauses steht nicht auf den Trümmern der Nationalstaaten. Wer die einzelnen Staaten zertrümmern will, um darauf Europa zu bauen; wer ihre Grundgesetze zerreißen will, um an deren Stelle eine neue gemeinsame Verfassung zu schreiben - der hat von Europa wenig verstanden. Europa zerschlägt nichts, Europa zerreißt nichts; Europa fügt zusammen.

Verfassungen sind nicht dafür da, die Verfassung der Menschen zu ruinieren; sie sollen Vertrauen schaffen. Europa ist eine neue concordantia discordantium, ein Werk, das ganz Verschiedenes, ja Widersprüchliches zur Übereinstimmung bringt. Europa ist ein demokratisches Projekt. Um es zu vollenden, braucht man keinen teuflischen Plan und keine teuflischen Alternativen. Man braucht dazu die Menschen.

Das Europäische Haus ist ein großes Haus mit vielen Räumen, vielen Türen, vielen Kulturen und vielen Arten von Menschen. Dieses Haus bewahrt die europäische Vielfalt und den Reichtum, der sich aus dieser Vielfalt ergibt. Dieses Haus ist die Heimat Europa.

© SZ vom 08.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: