Putschversuch in der Türkei:Sechs Jahrzehnte voller Machtkämpfe

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Ankara 1980: Soldaten vertreiben Demonstranten in der Nähe des Parlaments. Wenige Tage später kommt es zum Staatsstreich. (Foto: ASSOCIATED PRESS)

In der Geschichte der Türkei hat das Militär schon vier Mal die Macht an sich gerissen. Auch wenn der Versuch dieses Mal gescheitert ist: Es gibt Parallelen zur Vergangenheit.

Von Benedikt Peters

Als die Fernsehsender Freitagnacht Bilder von rollenden Panzern und Soldaten mit Gewehren im Anschlag zeigten, dürften viele Menschen in der Türkei zurückgedacht haben. Die Älteren zum Beispiel an die Jahre 1960, 1971 oder 1980. Die Jüngeren an das Jahr 1997, auch wenn es damals ein bisschen anders war. Was die früheren Staatsstreiche von den Ereignissen in der Nacht zu Samstag unterscheidet: Sie waren erfolgreich. Beim Putsch von 2016, so viel ist inzwischen so gut wie sicher, bleibt es beim Versuch. Dennoch gibt es Parallelen zwischen 2016 und der Vergangenheit. Oft waren es nur Teile der Armee, die konspirierten und nach der Macht griffen. Nicht zum ersten Mal wird gegen einen Politiker geputscht, der, wie Recep Tayyip Erdoğan, einen politischen Islam propagiert. Alle Staatsstreiche schließlich eint eine zweifelhafte Rechtfertigungsstrategie der Putschisten: Sie sehen angeblich die Demokratie bedroht - und bedienen sich dann selbst undemokratischer Maßnahmen.

Am 27. Mai 1960 greifen 38 zumeist junge Offiziere nach der Macht. Ihre Führung übernimmt nach einiger Zeit General Cemal Gürsel, der später zum vierten Präsidenten der Türkischen Republik werden wird. Den amtierenden Ministerpräsidenten Adnan Menderes lassen sie festnehmen. Ihm werden islamische Tendenzen und Verstöße gegen die laizistische Verfassung vorgeworfen. Zudem bevorzuge er die kurdische Minderheit. Zuvor hatte Menderes Unterstützung im Volk verloren und zunehmend autoritär regiert. Er ließ die Presse zensieren und schränkte die Rechte der Oppositionsparteien ein, darunter auch die CHP, die Partei des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Im Frühjahr 1960 waren zahlreiche Menschen, darunter viele Studenten, gegen die Regierung auf die Straße gegangen. Menderes überlebt den Putsch nicht. Im September 1961 wird er hingerichtet. Im November schließlich erklären die Militärs den Staatsstreich für beendet und übergeben offiziell die Macht an eine zivile Regierung.

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Elf Jahre später kommt es zum zweiten Putsch. Doch dieser ist anders, weniger blutig, es ist ein Putsch per Memorandum. Am 12. März 1971 übergibt die Armeeführung, die dieses Mal geschlossen agiert, das Dokument an Ministerpräsident Süleyman Demirel. Darin wird er zum Rücktritt aufgefordert. Dieser sei notwendig, um die "aktuelle anarchische Lage zu neutralisieren". Eine Rezession beutelt das Land. Zudem kommt es immer wieder zu Ausschreitungen und Anschlägen linksextremer Gruppen. Demirel muss sich fügen und zurücktreten. Danach regieren bis 1973 zivile Übergangsregierungen, allerdings stehen sie unter der Aufsicht der Armee. Einige Jahre später kehrt Süleyman Demirel an die Macht zurück. Doch auch dieses Mal sollte es kein gutes Ende nehmen.

Es ist der 12. September 1980, und dieses Mal rollen wieder die Panzer. Und wieder heißt der Ministerpräsident, gegen den sich der Putsch richtet, Süleyman Demirel. Dieses Mal aber wird es ungleich blutiger werden. Zum Anlass nehmen hochrangige Offiziere unter General Kenan Evren die erneut chaotische Situation in der Türkei, die teilweise an einen Bürgerkrieg erinnert. Linke und rechte Gruppen kämpfen gegeneinander, es gibt Anschläge und Straßenkämpfe. Gerichtsakten zufolge kommt es in dieser Zeit zu mehr als 5000 Morden. Zudem stagniert die Wirtschaft wieder. Im Fernsehen verkünden die Putschisten ihre Machtübernahme und verhängen das Kriegsrecht. Es kommt zu politischen Festnahmen, Folterungen und Todesurteilen. Die Zeitung Cumhuriyet schreibt 1990 von 650 000 Verhaftungen, 50 vollstreckten Todesurteilen und 171 Fällen, in denen Menschen zu Tode gefoltert wurden. Demirel überlebt, den Staatsstreich aber kann er nicht verhindern. Im November 1983 geht die Militärherrschaft offiziell zu Ende.

Ob das, was am 30. Juni 1997 passiert, nun ein Staatsstreich ist oder nicht, ist umstritten. Bei vielen setzt sich die Beschreibung eines Generals durch, der von einem "postmodernen Putsch" spricht. Denn dieses Mal passiert Vieles nicht, was die anderen Staatsstreiche kennzeichnete: Der Ausnahmezustand wird nicht verhängt, die Nationalversammlung nicht aufgelöst, die Verfassung nicht außer Kraft gesetzt. Stattdessen üben führende Generäle über Monate Druck auf die Regierung Necmettin Erbakans aus. Erbakan ist der erste Ministerpräsident der Türkischen Republik, der einen politischen Islam propagiert. Die Militärs "empfehlen" ihm etwa, religiöse Schulen zu schließen und Kopftücher an Universitäten zu verbieten. Hinter verschlossenen Türen zwingen sie ihn zum Rücktritt. Erbakan hat übrigens nicht nur als Ministerpräsident gewirkt. Er gilt auch als politischer Ziehvater des aktuellen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.

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