Prozess gegen Cumhuriyet:"Wir durchqueren die Dunkelheit"

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Unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit findet in Istanbul der Prozess gegen 17 Mitarbeiter der Zeitung "Cumhuriyet" statt. (Foto: Murad Sezer/Reuters)
  • Mit flammenden Appellen erwehren sich in Istanbul 17 Mitarbeiter der Zeitung Cumhuriyet vor Gericht der teils bizarren Vorwürfe.
  • Die Anklage wirft ihnen Unterstützung von Terrororganisationen vor.
  • Am Freitag ordnete ein Gericht nach mehrstündiger Anhörung an, sieben der elf noch inhaftierten Angeklagten freizulassen.

Von Luisa Seeling, München

271 Tage haben einige von ihnen in Haft verbracht. Nun dürfen sie endlich ihre Sicht der Dinge darstellen, die Bühne nutzen, die ihnen so ein Prozess bietet. Und das tun sie auch, in teils flammenden Appellen. Am Montag begann in Istanbul die Verhandlung gegen 17 Mitarbeiter der linksliberalen Tageszeitung Cumhuriyet. Die Anklage wirft ihnen Unterstützung von Terrororganisationen vor, etwa der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, die nach Ansicht der Regierung hinter dem Putschversuch im Juli 2016 steckt.

Am Freitag ordnete ein Gericht nach mehrstündiger Anhörung an, sieben der elf noch inhaftierten Angeklagten freizulassen. Angehörige und Anwälte hatten darauf gedrungen, alle elf freizulassen. Herausgeber Akin Atalay, Chefredakteur Murat Sabuncu, der Investigativjournalist Ahmet Şık und der Kolumnist Kadri Gürsel bleiben in Haft. Seit fünf Tagen werden die Cumhuriyet-Mitarbeiter vor Gericht gehört. Alle haben die Anschuldigungen von sich gewiesen, zuletzt der Kolumnist Hikmet Çetinkaya. Er habe bereits vor der Unterwanderung des Staatsapparats durch Gülen-Anhänger gewarnt, als diese noch mit der Regierung verbündet waren, sagt Çetinkaya. Zuvor hatten Chefredakteur Sabuncu, der Kolumnist Gürsel und Ahmet Şık ausgesagt.

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Vor allem die Anklage gegen Şık gibt Rätsel auf. Der prominente Reporter verbrachte 2011 schon ein Jahr in Untersuchungshaft. Er hatte ein Enthüllungsbuch verfasst, "Die Armee des Imams", in dem es um die Unterwanderung der Polizei durch Gülen-Anhänger ging. Weil die Bewegung damals noch mit Recep Tayyip Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) an einem Strang zog, geriet Şık ins Visier der Justiz. Erst 2012 kam er frei; sein Buch erschien nie, das Manuskript kursiert im Internet. Heute wird ihm das Gegenteil vorgeworfen: Er soll für die Gülen-Bewegung Propaganda gemacht haben. Şıks Stellungnahme ist eine zornige Anklage. Das Bündnis zwischen AKP und Gülen sei eine "mafiaartige Regierung", sagt er; Prozessbeobachter haben seine Worte protokolliert, Journalisten von taz gazete haben sie übersetzt.

Şık vergleicht die Koalition von Regierung und Gülen-Bewegung mit einer explodierenden Kanalisation - "es war eine Schweinerei, und es ist immer noch eine Schweinerei". Hätte Erdoğan sein Buch über Gülen damals gelesen, "wären wir heute nicht hier". Über die Zeit nach dem Putschversuch sagt Şık: "Wir durchqueren die Dunkelheit und immer dunkler werdende Tage." Der Umsturz sei verhindert worden, aber alle grundlegenden Rechte und Freiheiten seien suspendiert. Dann kommt Şık auf die Vorwürfe zu sprechen. Er wolle sich gar nicht verteidigen, denn was geschehe, sei nichts als ein Angriff auf die Gedanken-, Meinungs- und Pressefreiheit. "Journalismus ist kein Verbrechen", betont Şık , bevor er unter Applaus endet: "Lang lebe die Freiheit."

Ähnlich bizarr ist die Anklage gegen Cumhuriyet-Herausgeber Akın Atalay. So umfasst das gegen ihn vorgebrachte Beweismaterial offenbar eine Überweisung Atalays aus dem Jahr 2011 an einen Handwerker, der seinen Fußboden repariert hatte. Der Sohn des Handwerkers verkehrte offenbar in einem Lokal, gegen dessen Besitzer wegen Straftaten ermittelt werde - ein Umstand, aus dem die Staatsanwaltschaft eine Schuld Atalays ableitet.

Am Donnerstag hatten auch der Autor Aydın Engin und Orhan Erinç, Vorsitzender der Verlagsstiftung, ausgesagt. Engin hielt sich kurz: Dass er und seine Kollegen auf die Anklagebank gezerrt würden, "beschämt und schmerzt mich im Namen der Justiz und meines Landes". Erinç äußerte sich zu den Vorwürfen, die Redaktionslinie der Cumhuriyet sei zugunsten von Terrororganisationen verändert worden. Die Linie sei offensichtlich: Die Zeitung stehe für Demokratie und Menschenrechte.

Um die steht es nicht zum Besten im Land, Zehntausende kamen nach dem Putschversuch in Haft oder verloren ihre Jobs. Der Organisation Reporter ohne Grenzen zufolge sind mehr als 160 Journalisten inhaftiert. Der Prozess gegen Cumhuriyet findet international große Beachtung; weil Haftstrafen von bis zu 43 Jahren drohen, weil eine der letzten unabhängigen Pressestimmen zum Schweigen gebracht werden könnte. Und weil das 1924 gegründete Blatt eine Institution ist, älteste Zeitung des Landes, Flaggschiff des säkular-kemalistischen Lagers. Der Prozess sei ein "Lackmus-Test für die neue Türkei", schreibt Yusuf Kanlı in der Hürriyet Daily News. Die Anklage sei politisch; nun müsse sich zeigen, ob es noch Richter gebe in der Türkei - oder ob der "Traum von einer modernen Türkei" zerplatze.

© SZ vom 29.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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