Presseschau zu Berlusconis Rücktritt:"Italien ist eine entsicherte Granate"

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"Schrille Entzückensschreie", "Truman Show, die das Gehirn auffrisst", "von seiner Libido beherrschter Halbtags-Chef", "Multi-Organversagen". Einmütig bezeichnet Europas Presse Berlusconis Schritt als überfällig. Sein "Rücktritt in Zeitlupe" erscheint jedoch manchen Kommentatoren verdächtig - sie wittern eine Finte.

Maria Holzmüller und Jakob Kienzle

Ezio Mauro fordert in La Repubblica, die politische Hängepartie zu beenden und fordert die Einsetzung einer glaubwürdigen Regierung:

Silvio Berlusconi hat sich zum Rücktritt bereit erklärt, nachdem klar wurde, dass er im Parlament keine Mehrheit mehr hat. (Foto: AFP)

"'Bewusstsein', 'Sorge' und schlussendlich 'Rücktritt' - Drei Wörter, die jahrelang in Silvio Berlusconis Wortschatz fehlten" habe der Premier gestern vor Staatspräsident Giorgio Napolitano aussprechen müssen. "Sie kündigen das Ende seiner Regierung an, nachdem er die Mehrheit im Parlament verloren hat. Es endet eine 17 Jahre überdauernde Epoche und es eröffnet sich eine Krise, die komplett in die Hände des Staatsoberhaupts übergeht: ohne noch mehr listige Spielchen und Manöver auf dem Rücken des Landes. Der Spielraum - politisch und zeitlich - ist bereits sehr eng. Das Land kann noch gerettet werden, wenn Berlusconi so schnell wie möglich das Feld räumt, nachdem sich gezeigt hat, dass er ein schwächendes Element in dieser Krise ist. Italien braucht sofort eine glaubwürdige Regierung, die das Vertrauen der Märkte, der EU und vor allem der Bürger zurückgewinnt. Wenn das nicht möglich ist, wird gewählt. Für die Opposition könnte es die erste Möglichkeit sein, die Republik neu aufzubauen, nach einem tollkühnen Abenteuer, das endlich zerschlagen wird von der Demokratie der Institutionen, von Europa und von der öffentlichen Meinung."

Barbara Spinelli resümiert ebenfalls in La Repubblica:

"Die nahezu zwanzig Jahre Berlusconi waren eine Show, die die Gehirne dominierte, auch wenn sporadisch mal die Linke regiert hat. Eine Truman Show, die am Ende sogar das Gehirn dessen auffrisst, der sie erschaffen hat. (...) Auszusteigen bedeutet, die heruntergekommenen italienischen Instituzionen neu aufzubauen. Es ist nicht klar, ob die Linke der Rai (Italiens öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt, Anm. der Red.) die Unabhängigkeit von den politischen Parteien geben wird, die beispielsweise die BBC hat. Man wird in Europa darum kämpfen, sie in etwas demokratisches und supranationales zu verwandeln. Es wird neue Diskurse über die gesellschaftliche Ethik geben, es werden Korruption, Klüngel und Mafia bekämpft werden."

Federico Geremicca äußert in La Stampa sein Misstrauen, ob Berlusconis angekündigter Rücktritt tatsächlich erfolgen wird:

"Jetzt könnte man sich fragen, wie viel Zeit umsonst vergeudet wurde - und vor allem wie viel diese Zeit gekostet hat, sowohl an Geld als auch an politischer Glaubhaftigkeit. Unser Land hat bestimmte Probleme - und die sind nicht neu - im Bereich des Wachstums, aber es hat auch (vor allem) eine Lücke an politischer Glaubhaftigkeit, zurückzuführen auf die aktuelle Exekutive und vor allem ihrem Premier. Silvio Berlusconi hat immer bestritten, dass das so sei. Am Ende musste er sich einer fehlenden Mehrheit im Parlament geschlagen geben. Besser spät als nie, könnte man sagen (...) Aber wir stehen noch nicht vor dem Rücktritt der Exekutive (auch wenn der Präsident die Ankündigung gestern im Parlament als solchen ansieht) sondern lediglich vor der Ankündigung, dass er vollzogen wird, wenn das Stabilitätsgesetz verabschiedet ist: also vermutlich bis zum Ende des Monats. Diese "verschobenen" Rücktritte sind keine Neuheit in unserem Land - aber dieses Mal sind sie von einem großen Risiko begleitet: Dass von heute bis zum Tag des offiziellen Rücktritts sich die Karten noch einmal wenden, noch einmal versucht wird, das Prestige-Spiel zum x-ten Mal zu spielen, die Brunnen vergiftet werden und eine angespanntes politisches Klima in Kauf genommen wird - und das in einer ökonomisch dramatischen Situation."

Massimo Franco schreibt im Corriere della sera:

"Berlusconi tritt zurück - wenn auch nur in Zeitlupe. Er zögert den Moment hinaus, weil er an den von der EU geforderten Maßnahmen nach der Verabschiedung des Stabilitätsgesetzes teilhaben will. Das ist eine Geste der Verantwortung: auch wenn sie Raum für zeitliche Zweifel und Zweideutigkeit lässt in einem Land, das seit Monaten finanziellen Spekulationen ausgesetzt ist. Die kommenden Wochen drohen zu einem Kreuzweg zu werden: vor allem wenn die Regierung den Eindruck erweckt, Entscheidungen nicht zu beschleunigen sondern hinauszuzögern."

Die Regionalzeitung Sud-Ouest aus Bordeaux ist erleichtert über Berlusconis angekündigten Rücktritt:

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"Berlusconi, dieser von seiner Libido beherrschte Halbtags-Chef, amüsierte die Italiener schon seit langem nicht mehr. (...) Sein Volk ist zugleich voller Abscheu, gereizt angesichts des lächerlichen Bildes Italiens im Ausland, und voller Angst vor einem wirtschaftlichen Abrutschen des Landes, das im Herzen der Eurozone zu einer entsicherten Granate geworden ist. (...) In seinen besten Jahren hatte Berlusconi es verstanden, einer arbeitsamen und erfinderischen Nation seine Dynamik einzuhauchen. Doch dann gewannen die Schwächen des Mannes die Oberhand und nun ist sein programmierter Abgang eine Erleichterung. Für sein Land, aber auch für die EU, die nicht länger eine solche Last mitschleppen konnte."

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Die Schweizer Neue Zürcher Zeitung glaubt, dass die Chancen Italiens, die Krise zu bewältigen, nun gestiegen sind:

"Endlich, ist man geneigt zu sagen. Reichlich spät hat Silvio Berlusconi eingesehen, dass sein Kampf um die Macht verloren ist. Er legt das politische Schicksal Italiens nun in die Hände des umsichtigen Staatspräsidenten Napolitano. Dieser hat die Aufgabe, Neuwahlen anzusetzen oder aber eine Persönlichkeit zu suchen, der die Bildung einer neuen Mehrheit gelingt und die mit einem seriösen Reformprogramm die strukturellen Probleme des Landes angeht sowie das Vertrauen der Finanzmärkte zurückzugewinnen vermag. Ohne Berlusconi sind die Aussichten für Italien zweifellos besser".

Die Presse aus Wien sieht die Probleme Italiens nach der Ankündigung des Rücktritts des Ministerpräsidenten noch lange nicht gelöst:

"So laut das Aufatmen über dessen nahenden Abschied sein mag, den der Cavaliere Dienstagabend schließlich doch ankündigen musste, die Probleme am Tiber sind damit längst nicht gelöst. So wie andere Länder Europas leidet Italien unter einem Multi-Organversagen: Durch die Finanzkrise sind die seit Jahren erkennbaren und beharrlich verdrängten Symptome nur deutlicher zum Vorschein gekommen. So wie andere lebt Italien über seine Verhältnisse, leistet sich einen Wohlfahrtsstaat, den es allein aus demografischen Gründen nicht mehr lange finanzieren kann."

Wer soll die Probleme des Landes in den Griff bekommen? Die Frankfurter Allgemeine Zeitung befasst sich mit dem Zustand der italienischen Opposition:

"Berlusconis Gegner haben noch immer kein Alternativprogramm zustande gebracht. Die Demokraten sind hin und her gerissen zwischen Unterstützung einer reformorientierten Übergangsregierung von Fachleuten einerseits und andererseits dem Programm der linksradikalen außerparlamentarischen Opposition. Eine neue, tatkräftige Regierung mit Beteiligung der Opposition ist daher nicht in Sicht. Solange sich die Italiener und ihre Politiker nicht klar für die Erfüllung oft wiederholter Reform- und Sanierungsversprechen entschieden haben, müssen die Außenstehenden alles dafür tun, dass Italien wirklich auf dem versprochenen Reformkurs bleibt."

Die Frankfurter Rundschau stellt fest, Berlusconi habe die Italiener betrogen. Sein Geschäftsmodell sei nun am Ende angelangt:

"Berlusconi hatte sich als Retter eines im Chaos untergehenden Italiens angeboten. Ihm sei es gelungen, seine Firma zu einer der größten Italiens zu machen, er werde auch aus dem schönen Italien, dem Bel Paese, ein florierendes Unternehmen machen. Nichts davon war wahr. Nichts davon ist wahr geworden. Italien steht heute schlechter da als vor Berlusconi. Inzwischen ist Berlusconis Geschäftsmodell für Italien auch an den Börsen so sehr in Verruf geraten, dass von dort schrille Entzückensschreie zu hören sind, wenn er geht"

Die Tageszeitung in Berlin warnt davor Berlusconi schon abzuschreiben:

"Erinnern wir uns: Schon vor einem Jahr sah Italien die gleiche politische Konstellation. Berlusconi hatte die Mehrheit im Abgeordnetenhaus verloren, nachdem Gianfranco Fini samt seinen Anhängern mit ihm gebrochen hatte. Das Misstrauensvotum war eigentlich nur noch Formsache, doch Berlusconi bekam einen Monat Gnadenfrist, um noch den Staatshaushalt verabschieden zu können - schließlich mussten 'die Märkte' ruhig gehalten werden. Der Regierungschef nutzte damals diesen Monat, um sich eine neue Mehrheit zusammenzukaufen - plötzlich stand der Verlierer erneut als Sieger da. Auch jetzt ist zu erwarten, ist zu befürchten, dass es Berlusconi nur vordergründig um die Stabilität Italiens geht, dass er vor allem erneut versuchen wird, in letzter Sekunde seine Haut zu retten."

Ähnlich sieht es das Handelsblatt:

"Die Vorgänger von Berlusconi, wie seinerzeit Giulio Andreotti, sind nach Abstimmungsniederlagen sofort zurückgetreten. Aber Berlusconi bleibt stur, weil er nicht zurücktreten muss, solange er keine Vertrauensabstimmung verliert. Es gibt neben den politischen andere handfeste Gründe, dass Berlusconi den Rücktritt erst einmal nur angekündigt hat: Italienische Zeitungen berichten breit, dass Berlusconi unbedingt im Amt bleiben will, auch ohne Mehrheit, weil er so seine Immunität nicht verliert. Seine Prozesse sind zwar wegen der politischen Turbulenzen derzeit nicht im Mittelpunkt der Berichterstattung, aber noch immer sind vier Verfahren anhängig. Unter anderem steht er in Mailand vor Gericht mit dem Vorwurf des Amtsmissbrauchs und der Prostitution mit Minderjährigen."

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