NSU-Prozess:Das Leid hinter den Akten

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Abdul Kerim Simsek, Sohn des Blumenhändlers Enver Şimşek, der das erste Opfer der rechtsradikalen Terroristen des NSU war, neben seiner Anwältin Seda Basay-Yildiz. (Foto: AFP)

Vor Gericht gibt der Sohn eines NSU-Opfers erstmals Einblick in sein Gefühlsleben. Und es steht unüberhörbar im Raum, weswegen Beate Zschäpe und ihre vier Mitangeklagten hier wirklich sitzen.

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Der Junge war 13, als sein Vater ermordet wurde. Früh morgens wurde er im Internat geweckt, der Lehrer sagte ihm, er müsse sofort nach Nürnberg, dort sei etwas geschehen. Als er ankam, sagte man ihm, der Vater sei im Krankenhaus. "Ich spürte, dass etwas Furchtbares passiert war", sagt der Sohn. Dann endlich durfte er zu seinem Vater. Intensivstation. Blinkende, fiepende Geräte. Mittendrin ein Mensch. "Ich bemerkte als Erstes, dass sein linkes Auge zerfetzt war. Je näher ich mich ihm näherte, bemerkte ich drei blutverschmierte Löcher in seinem Gesicht und weitere an seiner Brust. Automatisch hatte ich diese gezählt. Ich glaube, ich hatte damals sechs Löcher gezählt. Ich werde das nie vergessen."

Es ist völlig still in Saal A 101 des Oberlandesgerichts München. "Ich wollte nicht weg. Ich wollte meinen Vater beschützen", sagt der Sohn. "Wir hatten Angst, dass die Täter zurückkommen und ihre Tat zu Ende bringen." Der Vater starb am nächsten Tag.

Der Junge von einst steht im Gerichtssaal des NSU-Prozesses. Er ist nun ein erwachsener Mann. Abdul Kerim Şimşek, 30 Jahre alt, Vater einer zweijährigen Tochter. Demnächst macht er sein Diplom als Medizintechniker. Alles, was er damals erlebte, hat er tief in sich verschlossen. 17 Jahre lang. Seit September 2000, als Unbekannte auf seinen Vater an dessen Blumenstand in Nürnberg schossen.

Der Blumenhändler Enver Şimşek war das erste Opfer der rechtsradikalen Terroristen des NSU. Aber das wusste keiner. Die Polizei nicht, die Familie nicht, auch nicht der Sohn. Später, als man ihn nach seinem Vater fragte, hat er nie von dem Mord gesprochen. Das hatte einen Grund.

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Die Polizei hat die Familie jahrelang verdächtigt, den Vater selbst ermordet zu haben. Oder dass der Vater, der als Blumengroßhändler häufig nach Holland fuhr, als Drogenkurier arbeitete. Nichts war wahr. Aber der Witwe hat die Polizei das Bild einer blonden Frau gezeigt und erklärt, das sei die Geliebte ihres Mannes. Er habe zwei Kinder mit ihr. So wollte man ihr Schweigen brechen. Bis heute, so die Familienanwältin Seda Basay, hat sich die Polizei bei der Witwe nicht entschuldigt.

Die letzte Möglichkeit, noch über die Opfer zu reden

All das hat der Sohn mitbekommen. Er hat es in sich vergraben. Nun spricht er, zum ersten Mal. Seine Stimme bebt. Er sieht die Richter an, nicht die Angeklagten. Er findet sie keines Blickes wert. Dann hebt er an. "Ich bin der Sohn von Enver Şimşek", sagt er. "Ich habe nie meine Gefühle gezeigt, und es fällt mir auch jetzt sehr schwer, dies alles zu sagen, während meine Mutter heute da ist."

Es ist oft berührend, wenn die Angehörigen der NSU-Opfer selbst das Wort ergreifen. Dann steht unüberhörbar im Raum, weswegen Beate Zschäpe und ihre vier Mitangeklagten hier wirklich sitzen. Bald beginnen die Plädoyers der Verteidigung, es ist nun die letzte Möglichkeit, noch über die Opfer zu reden.

"Wir brachten den Leichnam meines Vaters in die Türkei, um ihn zu beerdigen", erzählt Abdul Kerim Şimşek. "Als Sohn hatte ich die Pflicht, meinen Vater zu Grabe zu tragen. Ich musste ihn mit anderen Verwandten ins Grab legen. Bei uns gibt es keinen Sarg, sondern nur ein weißes Leintuch, wo der Verstorbene eingewickelt wird. Beim Niederlegen meines Vaters bemerkte ich, dass sich das Leintuch am Hinterkopf, wo die Schussverletzung war, rot verfärbte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht geweint." Der Sohn holt tief Luft. "Als ich die Erde auf ihn schüttete, konnte ich nicht mehr."

In Nürnberg hat der NSU allein drei Menschen getötet

Der Sohn fragt die Angeklagten: "Warum mein Vater? Wie krank ist es, einen Menschen nur aufgrund seiner Herkunft oder Hautfarbe mit acht Schüssen zu töten? Was hat mein Vater Ihnen getan? Können Sie verstehen, was es für uns heißt, im Bekennervideo den Vater blutend auf dem Boden zu sehen und zu wissen, dass er dort stundenlang hilflos lag?"

Der NSU hat in einem Bekennervideo ein Bild des sterbenden Enver Şimşek verwendet. Und er hat es mit Musik unterlegt, mit rechtsradikalen Hassgesängen. Den Sänger dieser Lieder hat Abdul Kerim Şimşek nun im Gerichtssaal gesehen - in einer schwarzen Robe . Es gibt manches in diesem Prozess, was man sich nicht wirklich vorstellen kann.

Der Sohn glaubt wie seine Anwältin Seda Basay nicht, dass die fünf Angeklagten die Einzigen sind, die dem NSU geholfen haben. Basay sagt, es gebe Hinweise, dass der NSU gerade in Nürnberg Leute hatte, die ihm Hinweise auf mögliche Opfer gegeben haben. In Nürnberg hat der NSU allein drei Menschen getötet.

Zum Schluss wendet sich Abdul Kerim Şimşek kurz Richtung Anklagebank. An Carsten S., der als Einziger seine Schuld bekannt und sich bei den Familien der Opfer entschuldigt hat. "Herr S.", sagt der Sohn, "wir nehmen Ihre Entschuldigung an." Carsten S. beginnt zu weinen, er streicht sich Tränen aus den Augen. Dann sagt Şimşek: "Ich möchte, dass alle anderen, die an der Ermordung meines Vaters Schuld sind, zur Verantwortung gezogen und in höchstem Maße bestraft werden."

© SZ vom 11.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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