Michael Kellner im Gespräch:"Ich finde, der Begriff Volkspartei ist letztes Jahrhundert"

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Die Grünen reißen ihre Fenster auf - und wollen auch sehr strittige Fragen neu diskutieren. Ihr Bundesgeschäftsführer Michael Kellner über die neue soziale Frage, die derangierte Linke und den Zusammenhang zwischen Bienenschutz und Grundeinkommen.

Interview von Stefan Braun

SZ: Sind die Grünen die besseren Sozialdemokraten?

Michael Kellner: Die Grünen sind die Grünen. Daran wird sich ganz sicher nichts ändern.

Trotzdem hat Ihr neuer Parteichef binnen Wochen eine Debatte über Hartz IV und das bedingungslose Grundeinkommen angestoßen. Das klingt nicht sehr nach grün und viel mehr nach SPD. Warum?

Gerechtigkeitsfragen und ökologische Fragen gehören zusammen. Wir müssen beides gemeinsam denken und verkörpern. Wir werden unsere ökologischen Ziele nur erreichen, wenn es dabei gerecht zugeht. Sonst wird uns die Unterstützung fehlen.

Wie wollen Sie das erreichen?

Es geht dabei um Würde. Um das Gefühl also, dass wir um Sorgen und Ängste wissen und sie wahrnehmen. Dass wir uns darum kümmern, welche Konsequenzen es hat, wenn wir zum Beispiel für den Ausstieg aus der Kohle eintreten. Da brauchen wir einen Plan, um das sozialverträglich hinzukriegen und die Regionen zu unterstützen.

Grundsatzprogramm
:Die Grünen wollen sich neu erfinden

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Von Constanze von Bullion

Trotzdem: Was hat die Rettung der Bienen mit dem bedingungslosen Grundeinkommen zu tun? Greift die neue Parteiführung nicht ganz bewusst thematisch aus, um der SPD Konkurrenz zu machen?

Wir wollen Orientierung geben, in einer Zeit, in der die politische Linke in Deutschland wie in Europa ziemlich derangiert ist. Das ist unsere Aufgabe. Wer wohnt denn an den großen Ausfallstraßen der Städte, an denen die Luft am dreckigsten ist? Wer leidet denn am meisten unter der Klimakrise? Die Schwächeren, die Ärmeren. Deshalb ist es so wichtig zu zeigen: Die Grünen haben die Interessen aller im Blick. Nur so können wir Unterstützung für eine entschiedene öko-soziale Politik gewinnen.

Die neue Parteiführung kämpft damit aber bewusst um die Rolle einer neuen linken Volkspartei. Ist das Größenwahn oder logische Folge einer schwächelnden SPD?

Ich finde, der Begriff Volkspartei ist letztes Jahrhundert. Die Welt verändert sich rasant, und im Augenblick hecheln alle atemlos hinterher. Was heißt heute Fortschritt? Hat er für die Menschen noch die positive Bedeutung? Oder macht ein Fortschritt namens Digitalisierung, namens Facebook vielen Menschen einfach nur Angst? Und wenn ja, was muss passieren, damit es wieder so etwas wie einen positiven Fortschritt gibt, damit Digitalisierung das Leben besser macht? Das ist ein wichtiges Beispiel, wo wir neue Orientierung geben wollen.

Was treibt die Grünen an, sich gerade jetzt neu zu erfinden?

Wir erleben Ohnmachtsgefühle - gegenüber der Politik, gegenüber großen Konzernen, gegenüber den Internetgiganten, die scheinbar ungezügelt über unsere Daten verfügen. Diese Ohnmacht müssen wir überwinden. Wir nehmen neuen Schwung. Wann, wenn nicht jetzt?

Warum suchen die Grünen ein neues Fundament in Form eines neuen Parteiprogramms?

Unser aktuelles Grundsatzprogramm stammt aus dem Jahre 2002. Damals war von Facebook noch keine Rede. Alle Welt freute sich auf die EU-Osterweiterung und der Nahe Osten war noch nicht in sich zusammen gefallen. Und heute? Ist der Brexit da, hat der Demokratiefeind Viktor Orban in Ungarn die Wahl gewonnen; im Nahen Osten herrscht Krieg und Chaos. Und Facebook ist zu einer unheimlichen Macht aufgestiegen. Diese neuen Zeiten brauchen neue Antworten.

Schaut man auf den sogenannten Startkonvent der Grünen für ein neues Parteiprogramm, dann fällt eines auf: Es steht nicht mehr der Klimaschutz, die Ökologie, der Kampf gegen Massentierhaltung an erster Stelle. An erster Stelle steht die Frage, was die Menschen sich wünschen und brauchen. Warum?

"Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch mit seiner Würde und seiner Freiheit", das ist der erste Satz unseres aktuellen Grundsatzprogramms. Jetzt buchstabieren wir ihn für die neuen Zeiten aus. Nehmen Sie den Dieselskandal, nehmen Sie die Bankenrettung. Immer wieder entsteht der Eindruck, im Mittelpunkt steht vor allem das Interesse von Banken, von Autokonzernen, von denen da, die sich für uns gar nicht interessieren. Das darf zum Schutze der Gesellschaft und unserer Demokratie nicht so bleiben.

Früher wollten die Grünen alle zu besseren Menschen machen. Sie wollten Bürger, die Fahrrad statt Auto fahren, die möglichst vegan essen und möglichst solidarisch ihren Reichtum teilen. Jetzt wird gefragt, was der Mensch braucht. Sind die Grünen dabei, Ihr Menschenbild zu ändern?

Das Ziel unserer Politik ist, übrigens seit 1980: Wir wollen die Welt für die Menschen besser machen. Das geht nur mit ihnen, nicht gegen sie. Und erziehen müssen Eltern, aber nicht Parteien. Im Gegenteil: Für mich bedeutet das grüne Verständnis von Individualität und Vielfalt, dass Menschen sich unterschiedlich ernähren, sich unterschiedlich fortbewegen können. Es ist nicht an uns zu sagen: das eine ist ganz schlimm und das andere ist perfekt.

Das Bild von der Besserwisser-Partei war sicher überzeichnet. Aber darin steckte die Wahrheit, dass die Grünen allen anderen sagen wollten, wie gutes Leben aussehen soll. Ist es damit also vorbei?

Gutes Leben gibt es nur im Plural. Und damit meine ich ganz verschiedene Lebensweisen, nicht die eine ideale, die es ohnehin nicht gibt. Alles andere wäre langweilig und ausgrenzend. Wir spüren doch alle, dass in der Gesellschaft der Zusammenhalt zerbröselt. Gleichzeitig gibt es die Suche nach mehr Gemeinschaft, nach mehr Solidarität, nach Geborgenheit. Darauf müssen wir politische Antworten geben.

Ist das nicht schon immer so gewesen?

Neu ist die wahnsinnige Zunahme an Hass und Hetze und Polarisierung in unserer Gesellschaft. Das will ich nicht ertragen, sondern darauf wollen wir antworten. Wir haben lange Phasen der Ausgrenzung und des zunehmenden Egoismus erlebt. Das ist gerade jetzt hoch gefährlich, da die AfD und andere nur das Ziel haben, weiter zu spalten und die Menschen auseinander zu treiben. Darauf jetzt solidarische, integrierende Antworten zu geben, ist dringend notwendig, damit unser politisches Gemeinwesen zusammenhält. Das ist eine Haltung, die ich für überlebenswichtig erachte in einer Gesellschaft, die sich immer weiter atomisiert.

Annalena Baerbock und Robert Habeck kämpfen augenscheinlich nicht mehr primär um die zu 100 Prozent überzeugten Öko-Kämpfer, sondern wollen Baerbock zufolge auch dorthin gehen, wo es weh tut: zu denen, die grüne Positionen bisher ablehnten. Kohlekumpel zum Beispiel. Was ist passiert?

Genau das ist doch der Kampf, die Leute zu überzeugen. Wir wollen raus und mit den Leuten diskutieren. Wir wollen aufsaugen, wo die Fragen sind, die Ängste, die Herausforderungen - und daraus dann Antworten entwickeln. Damit wir die Leute mitnehmen können, gerade auch die, die zweifeln. Wir wollen uns um das solidarische Band kümmern, das die Gesellschaft zusammenhalten kann. Dialog ist dafür die Grundvoraussetzung.

Es gibt eine Debatte über den Begriff Heimat. Robert Habeck will ihn nicht kampflos den Konservativen überlassen. Warum hat der Begriff plötzlich eine solche Bedeutung?

Weil er eine Sehnsucht nach einem verlorenen Ort ausdrückt. Für mich ein Ort in der Kindheit, eine Nostalgie. Ich würde niemanden kritisieren, der für sich über Heimat redet. Aber für mich ist er kein Leitbegriff für ein grünes Grundsatzprogramm.

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Kann man das Wort überhaupt anders besetzen als es Horst Seehofer und seine CSU machen - nämlich ausgrenzend?

Das war schon immer ein Problem dieses Begriffs. Der Fremde, der Andere - das ist doch bei Heimat immer mit dabei. Deswegen finde ich es interessanter, den Begriff Solidarität zu entstauben.

Das klingt arg floskelhaft. Was soll das heißen?

Es heißt deutlich zu machen, dass mir nicht egal ist, wie es anderen geht. Das ist der Kern von Solidarität. Eine Gesellschaft als Ich-AG - das wird nicht gut gehen. Solidarität und Zusammenhalt ist darauf die Antwort.

Habeck hat das Bedürfnis nach Geborgenheit ins Spiel gebracht, um zu beschreiben, was er unter Heimat versteht. Werden die Grünen die neuen Kümmerer der deutschen Politik?

Es geht darum, den Menschen das Gefühl zu geben, nicht im Stich gelassen zu werden. Es geht um politische Bedingungen für Geborgenheit. Das heißt, dass uns die Alten nicht egal sind. Dass diejenigen, die sie pflegen, würdig bezahlt werden. Es geht mich was an, wie die, die nur den Mindestlohn erhalten, über die Runden kommen müssen. Es ist uns Grünen nicht egal, wie Menschen bei Amazon bezahlt werden. Oder der Fahrradbote, der keine Absicherungen hat. Da ist längst ein neues Präkariat entstanden. Gute Arbeit und gut bezahlte Arbeit - das geht uns alle an.

Die beiden neuen Vorsitzenden suchen auch einen neuen Ton im Umgang mit der politischen Konkurrenz. Habeck sagte, er wolle sich, wenn er Kritik übe oder andere kommentiere, nicht dümmer stellen, als er sei. Das sollte wohl heißen, dass er nicht mehr die üblichen politischen Reflexe und Rituale pflegen möchte. Woher kommt diese neue Zugewandtheit?

Wir erleben teilweise ein vergiftetes Klima in der politischen Debatte in Deutschland. Da wollen wir einen anderen Ton anschlagen. Und gleichzeitig weiter klar Position beziehen - mit klarer Haltung, mit klaren Überzeugungen. Aber das heißt nicht, dass man in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner jedes Mal einen Knüppel auspacken muss.

Haben demokratische Politiker in Zeiten, in denen andere die Demokratie bekämpfen wollen, eine neue Verantwortung beim Umgang miteinander?

Ich finde: ja. In Zeiten, in denen Hass und Hetze immer heftiger und immer mehr werden, ist es ein großer Gewinn für unser Gemeinwesen, wenn man Argumente formuliert und austauscht.

Hat Politik eine ganz neue Verantwortung?

Politik hat immer die Verantwortung, das Gemeinwesen ausgleichend zu organisieren. Das ist in den letzten Jahren nicht sonderlich gut gelungen. Da müssen wir besser werden.

Es gibt bei den Grünen manchen, der sich insgeheim über die Spahns und Seehofers freut, weil er darauf hofft, dass die Union irgendwann wieder nach rechts rückt - und sich so die alte politische Schlachtordnung mit ihren klassischen Rollen und Aufgaben wieder herstellt. Haben diese Leute nicht recht?

Nein, ich halte das für eine Illusion. Die CDU wird ihren Versuch einzige Volkspartei zu sein trotz aller Jens Spahns nicht aufgeben. Sie wird nicht zurückgehen in die Zeit von Adenauer. Das ist auch wichtig - niemanden ist geholfen, wenn Parteien Rechtsnationalisten hinterherlaufen. Jede muss ihr eigenes Angebot machen - und wir machen unseres für die Gesellschaft, mit Weitblick und der Lust auf Debatte.

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