Medwedjews Reformpolitik:Permafrost in Russland

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Wieder mal Tauwetter im Kreml: Präsident Medwedjew will das Land umbauen - gegen seinen Vorgänger Putin und die Macht der Tradition.

Reinhard Krumm

Unter Fotojournalisten galt lange Jahre der "entscheidende Moment" als das, worauf es bei ihnen ankommt. Geprägt wurde der Begriff Mitte des 20.Jahrhunderts vom Meister dieser Zunft, Henri Cartier-Bresson, der damit den Augenblick beschrieb, der mit Hilfe einer Kamera einen Moment der Zeitgeschichte einfriert und verewigt, der Inhalt und Form vereint.

Dmitrij Medwedjew, des dritten Präsidenten der Russischen Föderation (links), will das Land erneuern - auch gegen seinen Vorgänger, den jetzigen Regierungschef Wladimir Putin. (Foto: Foto: dpa)

Im Russland dieser Wochen ist mit dem "entscheidenden Moment" gleichwohl genau das Gegenteil gemeint. In einem Artikel mit dieser Überschrift legte die auflagenstärkste Zeitung Moskovskij Komsomolez vor kurzem ihren Lesern dar, warum es höchste Zeit ist, das politische System aufzutauen: "Das Gefühl, dass es notwendig ist, etwas zu verändern, wird zunehmend zu einem Allgemeingut."

Euphorischer Jubel

Die Metapher, die die Veränderungen des Aggregatzustandes von Wasser als Erklärungsmuster für die Politik nimmt, hat in Russland Tradition. Dabei ist der Zustand der tiefgefrorenen Politik als Symbol des Obrigkeitsstaats das vorherrschende Bild.

Ähnlich wie in jedem Frühjahr in Russland das Ende des Winters gefeiert wird, so euphorisch ist auch jeweils der Jubel der Reformer bei jedem Ansatz von politischem Tauwetter. Berühmt geworden ist die nach diesem Begriff bezeichnete Reformperiode des sowjetischen KPdSU-Generalsekretärs Nikita Chruschtschow Ende der fünfziger Jahre.

Ein halbes Jahrhundert später tauchte das Wortspiel im Zusammenhang mit Dmitrij Medwedjew, des dritten Präsidenten der Russischen Föderation, wieder auf. Die Stabilisierungspolitik seines Vorgängers Wladimir Putin nach der Ära von Boris Jelzin sehen Beobachter zwar noch als erfolgreich, aber nicht mehr als ausreichend an in Zeiten eines globalen politischen und wirtschaftlichen Wandels.

Der seit etwa fünf Jahren geltende Gesellschaftsvertrag "Politische Freiheit gegen Stabilität" verliert seine Strahlkraft. Eine neue Strategie, wirksame Instrumente und belebende Konkurrenz werden benötigt, um möglichst schnell den aufgeschobenen Umbau der ineffektiven Wirtschaft und des starren politischen Systems anzugehen. Deshalb ändert sich 18 Monate nach Amtsantritt von Präsident Medwedjew das politische Wetter - kein Orkan oder Tornado zieht auf, wohl eher eine zarte Warmwetterfront, umgeben von mehreren Tiefdruckgebieten.

Schlag auf die Ambitionen

Anlass ist die Wirtschaftskrise, die Russland seit mehr als einem Jahr durchrüttelt und die Schwachstellen nicht nur des Wirtschafts-, sondern auch des politischen Systems erbarmungslos aufzeigt. In den ersten neun Monaten 2009 fiel das Bruttoinlandsprodukt um zehn Prozent, die Industrieproduktion sogar um 13,5 Prozent. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 8,1 Prozent.

Das ehrgeizige Ziel Russlands, zu den fünf größten Volkswirtschaften der Welt aufzuschließen (niedergeschrieben in der Sicherheitsstrategie bis zum Jahr 2020), ist nicht mehr möglich: "Ein Schlag auf die Ambitionen" titelt frech die Nezavissimaja Gazeta. Schon zuvor, in seinem Internetartikel "Russland, vorwärts!", hatte Präsident Medwedjew schonungslos die Schwachstellen Russlands aufgedeckt: "Jahrhundertelange wirtschaftliche Rückständigkeit und die Gewohnheit, auf Kosten des Rohstoffexports zu leben", "jahrhundertelange Korruption" und "eine in der Gesellschaft weit verbreitete paternalistische Einstellung".

Zur Lösung wird in Russland ein Zauberwort inflationär in den Umlauf gebracht: "Modernisierung", und die in allen Bereichen - Politik, Wirtschaft, Technik und auch Verwaltung. Nur wie soll das vorangetrieben werden in einem Staat, dessen Führung stets auf Stabilität um jeden Preis setzt? Dafür legen verschiedene Denkfabriken nun Konzepte vor, die sich darum streiten, ob Russland gen Westen schauen soll, oder aber ob Russland eine Alternative zu Europa ist. Einer der einflussreichen Advokaten der zweiten These, der Journalist Witali Tretjakow, fordert seit langem, jegliche Versuche zu beenden, den Westen einzuholen.

Für Russland ist diese Ost-West-Frage nicht neu. Sie erfährt aber Brisanz, wenn den beiden unterschiedlichen Ansätzen jeweils eine Beratergruppe der beiden höchstrangigen Entscheidungsträger zugeordnet wird, nämlich Putin und Medwedjew. Wie soll der "entscheidende Moment" der Modernisierung beginnen, wenn es keine einheitliche Meinung über die Zukunft Russlands an der Spitze des Machtapparats gibt, ja, wenn sich die Meinungen widersprechen?

Die Generation M

Die These, dass sich die Vorstellungen von Putin und Medwedjew über Russlands Weg unterscheiden, ist den Worten nach zu erahnen. So spiegelt die neue Ideologie eines "russischen Konservatismus" der allmächtigen Regierungspartei "Einiges Russland" unter Führung des Premiers Putin wohl kaum den Reformdrang des Präsidenten Medwedjew wider. Unterstützung erhält Letzterer derweil von ungewöhnlicher Seite.

Michail Chodorkowski, im Gefängnis einsitzender Oligarch, schreibt in einem Kommentar für die Wirtschaftszeitung Wedomosti von der "Generation M", der Generation Modernisierung, die für den Umbau unabdingbar sei. Jedoch, so schränkt er ein, die "liebt nicht die Machtvertikale", jene vom damaligen Präsidenten Putin eingeführte Machtstruktur, die von ganz oben bis in die Regionen Entscheidungen ohne Reibungsverluste (wie Diskussion oder gar Widerspruch) durchsetzen soll.

Doch zu diesem System hat Medwedjew bisher keine Alternative gefunden, ja nicht einmal genügend Mitstreiter, um neue Ideen in die Tat umzusetzen. In Schlüsselpositionen der staatlichen Hierarchie gelangten bisher nur sehr wenige Gleichgesinnte, die zudem nur zweitrangige Funktionen ausfüllen. Ähnlich sieht es bei den großen Wirtschaftsunternehmen aus.

Denn es sind weniger gute Konzepte und Pläne zur tiefgreifenden Modernisierung Russlands, die fehlen, als vielmehr konkrete Entscheidungsträger. Dabei drängt die Zeit, der "entscheidende Moment" wartet nicht. Er wird zwar nicht in einer tausendstel Sekunde wie in der Photographie gemessen, aber eben auch nicht in Dekaden.

So prophezeit Moskovskij Komsomolez seinen Lesern: "Wenn die Chancen vertan werden, so wird das die Geschichte nicht verzeihen." Also Permafrost?

© SZ vom 02.01.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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