Mazedonien: Leben nach der Haft:In Freiheit gefangen

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Von ihren Familien gemieden, werden viele entlassene Häftlinge in Mazedonien erneut straffällig. So landen sie wieder dort, wo sie hergekommen sind - im Knast.

Ruzica Fotinovska, Skopje, Mazedonien

Zum vierten Mal hat die Robert-Bosch-Stiftung in diesem Jahr junge Journalisten aus den Balkan-Ländern zu einem Reportage- und Recherche-Wettbewerb ("Balkan Fellowship for Journalistic Excellence") eingeladen. Die Süddeutsche Zeitung ist Medienpartner des Wettbewerbs, der auch von der österreichischen ERSTE Stiftung getragen wird. sueddeutsche.de veröffentlicht die drei Gewinner-Texte.

Das Idrizovo-Gefängnis ist die größte Haftanstalt Mazedoniens. In vielen Gefängnissen des Balkan-Staates herrschen menschenunwürdige Zustände. (Foto: N/A)

Als Dimitar im Juli dieses Jahres durch das schwere Eisentor des Idrizovo-Gefängnisses tritt, steht die Sonne hoch am Himmel. Die Straße ist menschenleer, nur ein streunender Hund döst unter einem Baum. "Ich wusste, dass sie nicht kommen würde", sagt er und meint damit seine Frau Marina. "Sie sagte mir, sie würde von ihrer Mutter etwas Geld bekommen und mich mit dem Kind am Tor abholen. Aber als ich sie neulich anrief, merkte ich an ihrer Stimme, dass sie es nicht tun würde."

Von der Gesellschaft zurückgewiesen

Dimitar stellt die Tasche mit seinen Habseligkeiten nur wenige Schritte vom Gefängnistor entfernt auf den Boden und beugt sich über den Brunnen, um zu trinken. Er wäscht seine Hände, fährt sich durchs Haar. Die feuchten Locken schimmern silbern in der Sonne. Er ist jetzt 44 Jahre alt, sein Haar ist grauweiß geworden, die Hände schwielig von der Landarbeit im Gefängnis.

Dimitar saß fast drei Jahre wegen Raubes in Mazedoniens größter Haftanstalt Idrizovo. Es war nicht seine erste Haftstrafe. Er wurde bereits zwei Mal wegen Diebstahls verurteilt und kam 2003 zum ersten Mal für drei Jahre ins Gefängnis. Nach nur einem Jahr in Freiheit saß er 2007 bereits wieder hinter Gittern.

Dimitar ist einer von Tausenden Ex-Häftlingen in Mazedonien, denen es beinahe unmöglich ist, sich wieder in eine Gesellschaft einzugliedern, von der sie zurückgewiesen werden.

Bei ihrer Entlassung erhalten Häftlinge eine einmalige Summe von 4700 Denar (75 Euro). Es gibt kein staatliches Programm, das sie dabei unterstützen würde, eine Arbeit zu finden oder sie einfach nur darin beraten würde, wie man außerhalb des Gefängnisses überlebt. Stattdessen sind sie auf sich alleine gestellt.

Die meisten scheitern.

Die härteren Bedingungen warten in Freiheit

Etwa 1600 Strafgefangene werden in Mazedonien jährlich aus der Haft entlassen. Es erwartet sie eine düstere Zukunft. Nur wenige haben einen Schulabschluss und viele leiden unter gesundheitlichen oder psychischen Problemen. Schätzungen zufolge greifen mehr als 30 Prozent der Menschen in Gefängnissen zu Drogen.

60 Prozent der Insassen von Idrizovo waren zumindest schon ein Mal im Gefängnis. Und die Gefahr, wieder straffällig zu werden, ist in den Monaten unmittelbar nach der Entlassung am größten, sagt Aleksandra Gruevska Drakulevski, eine Kriminologin aus der Hauptstadt Skopje.

Einmal draußen, haben die ehemaligen Häftlinge normalerweise mit weitaus härteren Bedingungen zu kämpfen, als jenen, die sie gerade hinter sich gelassen haben: mit hoher Arbeitslosigkeit, akuten finanziellen Problemen und der Isolierung von der Familie und der Gemeinschaft.

Zudem biete keine einzige staatliche Organisation oder Institution Ex-Häftlingen Unterstützung an, sagt die Kriminologin Drakulevski. Während Wohltätigkeitsorganisationen und andere Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sich zum Beispiel für den Umweltschutz und die Menschenrechte einsetzen, scheinen nur wenige daran interessiert zu sein, ehemaligen Zuchthäuslern zu helfen.

Mile Mladenovski, Direktor der Haftanstalt Idrizovo, räumt ein, dass zu wenig Personal für die Arbeit mit inhaftierten Straftätern zur Verfügung stehe. Das Gefängnis hat keinen Anstaltspsychologen und nur einen vollzeitbeschäftigten Sozialarbeiter. "Wir glauben, dass Arbeit im Gefängnis eine wesentliche Form der Resozialisierung ist, können sie aber nicht jedem anbieten, weil es uns an Sicherheitsbeamten fehlt und wir die von den Insassen hergestellten Produkte nicht in Geschäften vertreiben können", sagt der Gefängnisdirektor.

Als Dimitar 2006 nach Verbüßung seiner ersten Gefängnisstrafe wegen Diebstahls entlassen wurde, versuchte er wiederholt Arbeit zu finden. Doch jedes Mal, wenn er seinem zukünftigen Arbeitgeber gestand, dass er im Gefängnis war, bekam er die gleiche Antwort: "Wir rufen Sie innerhalb einer Woche zurück." Sie riefen nie zurück.

Deshalb versuchte er, seine Vergangenheit zu verheimlichen, und fand zweimal eine Stelle: Zuerst arbeitete er bei einer Autowaschanlage, dann lieferte er Joghurt für eine Molkerei aus. Doch seine Vergangenheit holte ihn wieder ein.

"Die Leute geben mir keine Chance"

"Es dauerte ein oder zwei Monate, bis sie erfuhren, dass ich im Gefängnis gewesen war, und mich vor die Tür setzten", sagt er. "Die Leute geben mir keine Chance. Das ist unsere Welt. Wenn du ein Ausgestoßener bist, stoßen sie dich nur noch tiefer hinunter."

Nur zwei Monate nachdem er zum zweiten Mal im Gefängnis gelandet war, verlor seine Frau ihren Arbeitsplatz. Der Besitzer des Ladens, in dem Marina arbeitete, erklärte ihr, dass sein Geschäft darunter leide, dass die Kunden sie wegen ihres Mannes mit Argwohn betrachteten.

Ähnliche Geschichten über erfolglose Versuche Arbeit zu finden hört man von den meisten Ex-Häftlingen. Die fünfzigjährige Elena (Name geändert, Anm. d. Red.) erzählt, dass sie nach ihrer Entlassung überall nach Arbeit Ausschau hielt. Aber jeder wies ihr die Tür, sobald bekannt wurde, dass sie eine zehnjährige Strafe für ein "Finanzdelikt" in ihrer ehemaligen Firma verbüßt hatte.

Elena erzählt, sie versuchte eine Stelle als Putzfrau zu bekommen, da sie hier mit einem Besen anstatt mit Geld hantieren muss. Sie fand jedoch nur Arbeit bei einer Wohltätigkeitsorganisation. Jetzt schneidet sie Obdachlosen die Haare und wäscht ihre Kleidung, wofür sie, wie sie sagt, eine verschwindend kleine Summe von 3000 Denar (50 Euro) pro Monat bekommt.

"Ich weiß nicht, was schlimmer war: Im Gefängnis musste ich mich zumindest nicht um das Einkaufen von Lebensmitteln oder Bezahlen von Rechnungen kümmern", sagt sie. "Jetzt weiß ich nicht, ob ich mein Geld für Medikamente oder Brot ausgeben soll."

Stigmatisierte Familien

Landet in Mazedonien jemand im Gefängnis, so ist bis zu einem gewissen Grad die ganze Familie davon betroffen. Milka, eine hagere Frau Anfang 60, ist Mutter eines Häftlings. Ihr Sohn begann Drogen zu nehmen und in weiterer Folge zu stehlen, um seine Sucht zu finanzieren. Sie lebt alleine am Stadtrand von Skopje und auch sie zahlt für die Vergehen ihres Sohnes eine harte Strafe.

Wegen ihm reden die Leute nicht mehr mit ihr. Wenn sie in ein Geschäft geht, folgen ihr die Verkäufer, weil sie befürchten, sie könnte etwas stehlen, sagt sie.

Milka erhoffte sich einst ein ganz anderes Leben für ihren Sohn. "Ich habe nur Angst, dass ihm nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis niemand zur Seite stehen wird und er sehr enttäuscht sein wird", sagt sie. "Er hat bereits seinen Lebenswillen verloren. Das tut mir im Herzen weh."

Dimitars Eltern versuchten die Tatsache, dass ihr Sohn hinter Gittern saß, zu verheimlichen und behaupteten, er habe Arbeit in Italien gefunden. Als die Lüge nach ein paar Monaten aufflog, zerstörte die Schande die Familie. Sein Vater starb kurz darauf. Seine Mutter verließ das Haus nicht mehr und ist mittlerweile auch gestorben. Seine Schwester zog nach Montenegro.

Seine Frau Marina hat ihn mehr oder weniger verlassen. "Am Anfang besuchte sie mich jeden Monat und brachte Fotos von unserem Sohn, aber nach einem Jahr wurden die Besuche seltener; ihre Eltern hatten sie davon überzeugt, mich zu verlassen", sagt er. "Mein achtjähriger Sohn glaubt, dass ich ihn nicht liebe, weil ich nicht zu Hause bin, und er weigert sich, mit mir zu sprechen, wenn ich anrufe."

Dimitar und Marina sind nicht offiziell geschieden, sie lebt nun bei ihren Eltern, während er im Haus seiner verstorbenen Eltern wohnt. Er hofft immer noch, dass sie wieder zusammenkommen, wenn er nur Arbeit fände. "Ich brauche nur einen festen Job, ich denke, dann würde sie zurückkommen."

Berichten des Komitees zur Verhütung von Folter beim Europarat und dem Helsinki-Komitee für Menschenrechte zufolge wurden Mazedoniens Gefängnisse wiederholt als inhuman berurteilt. Der Bericht des Europarats über mazedonische Haftanstalten aus dem Jahr 2006 strich die chronische Überbelegung als schweres Problem heraus. So teilen sich in manchen dieser Gefängnisse mehr als 25 Häftlinge eine Zelle. Als Reaktion auf die Kritik stellte die Regierung 56 Millionen Euro für den Um- und Ausbau von Haftanstalten zur Verfügung.

Für Rehablitierungsprogramme für die Häftlinge aber blieb offenbar nichts mehr übrig. In einem Land, in dem 33,5 Prozent der Bevölkerung arbeitslos sind, hat die Regierung auch wenig Motivation, der Arbeitsplatzbeschaffung von Ex-Häftlingen Priorität einzuräumen.

Dimitar Stojanovski, Leiter des Arbeitgeberverbandes in Mazedonien, beharrt darauf, dass Ex-Häftlinge bei Einstellungsverfahren nicht diskriminiert würden, da dies der Verfassung widerspreche. Die Statistiken zeigen jedoch, dass sehr wenige Unternehmen ehemaligen Straftätern eine zweite Chance geben. Mazedoniens Arbeitsvermittlungsagentur berichtete, dass von den im Jahr 2009 entlassenen 1643 Häftlingen nur sieben seriöse Jobs bekamen.

Die Gefängnisse in Mazedoniens Nachbarländern sind kaum besser. Dusanka Garic von der serbischen Verwaltung für die Vollstreckung von Strafmaßnahmen sagt, sie wisse nicht, was mit den ehemaligen Häftlingen geschehe, sofern sie nicht bzw. bis sie ins Gefängnis zurückkehrten. 2009 waren von den 9023 in Serbien inhaftierten Menschen 5420 Rückfalltäter.

Schlechte Vergangenheit, schlechte Zukunft

ApsArt, eine Kunst-NGO mit Sitz in Belgrad, ist die einzige Organisation im Land, die alles tut, um zu verhindern, dass Ex-Gefangene wieder straffällig werden. Direktorin und Gründerin Aleksandra Jelic setzt das Theater als Form der Therapie ein. "Wir stellen zum Beispiel eine Szene dar, wie sie reagieren würden, wenn sie einen alten Freund träfen, der noch immer drogenabhängig ist", erzählt Jelic. "Wenn einer antwortet, kommentieren das die anderen und sagen, wo er falsch reagiert hat und wie er es besser machen könnte."

Dragan (43), ein ehemaliger Häftling aus der Stadt Nova Pazova, der seine Drogensucht erfolgreich bekämpft hat, erzählt, dass ihm die Schauspielübungen dabei geholfen hätten, ihn für das Leben draußen vorzubereiten. Er lernte, seine Schwächen zu erkennen und gegenüber den Menschen um ihn herum toleranter zu sein.

Doch Dragan ist frustriert, dass er nach mehr als einem Jahr nach seiner Entlassung noch immer arbeitslos ist und mit Argwohn beäugt wird. "Die Menschen sehen mich so, wie ich früher war, nicht, wie ich jetzt bin", sagt er. "Aufgrund meiner schlechten Vergangenheit denken sie bereits daran, was mir in der Zukunft passieren könnte."

Dragans Ehe ging in die Brüche. Er hat seine Tochter seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen. Sie sind nur auf Facebook Freunde.

In Mazedonien kehren Gefangene nach Absitzen ihrer Strafe, wenn möglich, nach Hause zurück, oder besetzen verlassene Gebäude. Nur eine Handvoll findet einen Platz im Mladost Obdachlosenheim in Cicino Selo bei Skopje.

Niemand wartet draußen

Am Tag seiner Entlassung geht Dimitar nicht sofort nach Hause, sondern in die St. Petka-Kirche im Zentrum Skopjes, wo den Armen ein kostenloses Mittagessen angeboten wird. Der Kircheninnenhof ist voller Menschen, unter denen Dimitar einige Ex-Häftlinge erkennt.

Bevor die Mahlzeit beginnt, spricht eine Frau ein Gebet, dem sich die anderen anschließen. Ein in Lumpen gekleideter, schmutziger Mann mit ungepflegten Haaren und Bart beginnt sich zu bekreuzigen und murmelt: "Vater unser, der du bist im Himmel ..."

Die Küchentür öffnet sich. "Kommt. Es ist angerichtet", hört man eine Frauenstimme sagen. Die Menschen drängen sich nach vorne.

"Heute sind sie pünktlich. Manchmal sind sie zu spät dran", sagt Dimitar, lächelt und schaut auf seine Uhr, auch wenn es egal ist, ob sich die Frauen in der Suppenküche verspäten. Denn niemand wartet auf ihn.

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