Flüchtlingspolitik:Die Mehrheit im Land muss jetzt ihre Stimme erheben

Die Deutschlandfahne weht auf dem Reichstag in Berlin Deutschlandfahne auf dem Reichstag

Die Deutschlandfahne weht auf dem Reichstag in Berlin.

(Foto: imago/Manngold)

Die allermeisten Menschen in Deutschland wollen die freiheitliche Demokratie bewahren. Sie müssen lauter werden, damit deutlich wird: Es gab nie ein freieres, toleranteres, offeneres Deutschland als das von 2018.

Gastbeitrag von Jagoda Marinić

Es gibt ein Deutschland, das zu sehr in den Hintergrund gerückt ist: das Deutschland der Menschen, die sich ihre Freiheit und ihre Humanität nicht von Angstmachern abkaufen lassen. Überzeugte Demokraten, die leidenschaftlich für demokratische Grundwerte kämpfen. Sie verteidigen die Unantastbarkeit der menschlichen Würde anderer, als ginge es um ihre eigene. Im Kern tut es das auch. Denn im würdelosen Umgang mit dem Elend anderer zerstört einer immer auch sich selbst.

Wenn jetzt mitten in Europa von einer "Achse der Willigen" geredet wird, um Flüchtlinge abzuwehren, dann müssen diese vermeintlich Willigen mit dem Gegenwind jener Europäer rechnen, die nicht willens sind, die Aushöhlung des humanistischen Kerns dieses Kontinents mitzutragen. Geschichtsvergessenheit ist auch im Jahr 2018 keine Tugend geworden. Die westlichen Demokratien brauchen die wertebasierte deutsche Handlungsfähigkeit wie selten zuvor. Aber in Zeiten globaler Krisen droht die Empörungsdemokratie, garniert mit Hashtags, zur Selbstbespiegelungsnormalität in Deutschland zu werden. Zu einer starken Position in der sich verschiebenden Weltordnung findet man so nicht.

Dieses Land ist es gewohnt, gegen menschenfeindliche Positionen zu kämpfen

Nach dem G-7-Gipfel ging ein Bild von Angela Merkel um die Welt, das zeigte, wie sich die deutsche Kanzlerin, auf den Tisch gestützt, vor Trump aufbaute. Es war das offizielle Bild des Kanzleramts zu G7. Die internationale Presse erinnerte aufgrund der Bildsprache an eine Abschiedsbotschaft Barack Obamas: Merkel sei nun die Anführerin der freien Welt. Eine allein gelassene Verteidigerin westlicher Werte, die im Inneren die Stärke, die sie im Äußeren hat, nicht zu finden scheint. Sie verteidigte diese Woche die europäische Lösung in der Flüchtlingsfrage. Damit Merkel innenpolitisch so führen kann wie außenpolitisch, müssten jetzt die Bundesbürger klar sagen, ob sie an ihrer Seite stehen.

Jagoda Marinic

Jagoda Marinić, 40, ist kroatisch-deutsche Schriftstellerin. Ihre Kolumne erscheint alle vier Wochen samstags.

Der Anspruch, eine starke Führungsrolle innerhalb der westlichen Demokratien spielen zu können, gründet auch im Stolz auf das, was dieses Land in den vergangenen Jahrzehnten gelernt hat. Im Sinne von Soft Powers müssen die Qualitäten des gesellschaftlichen Lebens hierzulande klarer vermittelt werden. Vielleicht ist das meine Form von Patriotismus zu sagen: Dieses Land ist es gewohnt, gegen menschenfeindliche Positionen zu kämpfen und zu gewinnen. Das Deutschland, in dem ich aufgewachsen bin, war nämlich rechter als Deutschland 2018.

Deutschland ist heute besser als früher

Was heute als Rechtsruck bezeichnet wird, war in den Achtzigern die Normalität der Mitte. Es gab ein Schattendeutschland für Ausländer. In diesem Schattenland schien alles Entwürdigende erlaubt zu sein, ohne gesellschaftliche Ächtung zu erfahren. Man lese einmal Artikel zum Thema Integration aus den Achtzigern. Nichts war besser. Kanzler Helmut Schmidt sagte damals den Satz, den Merkel ihren Gegnern bis heute nicht gönnt: "Es war ein Fehler, so viele Ausländer ins Land zu holen." Die deutschen Bundesländer erpressten sich gegenseitig mit der Aufnahme oder Ablehnung von Flüchtlingen - wie heute auf europäischer Ebene.

Im Jahr 2018 sieht man die deutsche Kanzlerin Hand in Hand gehen mit Frau Genç, der Mutter der Mordopfer von Solingen. Vor 20 Jahren wären solche Bilder undenkbar gewesen. Das Leben der Ausländer hatte keinen politischen Wert. Kanzler Kohl kam nicht zur Familie der Opfer, weil so etwas "Beileidstourismus" sei. Das war die Bundesrepublik, in der die erste Generation von Ausländern aufgewachsen ist. Das war der Umgang mit Menschen, die man selbst gerufen hatte! Sie waren nicht durch die damals geschlossenen Grenzen gekommen, sondern aufgrund von Abkommen. Die Volksbeunruhigung von rechts spielte sich in denselben Spiralen ab wie heute. Wenn nun viele empört betonen, sie hätten Parolen wie derzeit in Deutschland noch nie gehört, dann beglückwünsche ich sie zu einem Leben in der Parallelgesellschaft. Als Ausländer hatte man dieses Privileg nicht. Vielleicht ist man deshalb dickhäutiger.

Dünnhäutig werde ich, wenn ich heute als Deutsche im Kanzleramt sitze und bei der Feier anlässlich von 60 Jahren Gastarbeiter-Anwerbeabkommen ein Film eingespielt wird, in dem der Sohn eines Gastarbeiters mit den Tränen kämpft, während er erzählt, wie sein Vater am Band schikaniert wurde wie ein Stück Vieh. So war Deutschland vor 30 Jahren. Vor 20 Jahren noch wäre im Kanzleramt ein solcher Film nicht gezeigt worden.

Europa im Kleinen muss ins Große zurückwirken

Es gab in diesem Land einen Wandel zum Besseren. In Sachen Ausländerrecht käme die CDU von heute der CDU von damals vor wie eine radikale Linke. Das lässt sich als Fortschritt interpretieren. Der Rückschritt besteht im derzeitigen Versuch, die Abschottungsmechanismen des alten Ausländerunrechts im Asylrecht durchzuexerzieren und so die konservative Wählerschaft zurückzugewinnen. Doch konservativ bedeutet heute nicht mehr die grobe nationale Selbstverteidigung. Die ist rechts. Die große, konservative Mehrheit in diesem Land will nun freiheitliche Demokratie konservieren. Sie muss lauter werden, damit deutlich wird: Es gab nie ein freieres, toleranteres, offeneres Deutschland als das von 2018.

In den derzeitigen Debatten gehen der nicht-kriminelle Einwanderer und der nicht-rechte Deutsche unter. Es geht unter, wie heute die deutschen Einwandererkinder gemeinsam mit den nicht-rechten Deutschen für die freiheitlich-demokratische Demokratie kämpfen. Das ist Europa im Kleinen. Es sollte jetzt ins Große zurückwirken, um all jenen Grenzen zu setzen, die Alleingänge für eine Alternative zu Europa halten.

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