Hunger:Nigeria droht eine Katastrophe

Hungersnot in Nigeria

Schon seit Monaten kämpfen in Nigeria Tausende Helfer von etwa 75 internationalen Organisationen um das Leben der Menschen.

(Foto: dpa)
  • In Nigeria bahnt sich die schlimmste humanitäre Katastrophe Afrikas an. Hunderttausende könnten sterben.
  • Am Freitag trifft sich die internationale Gemeinschaft zu einer Geberkonferenz in Oslo, um Geld für die Nothilfe zu sammeln.
  • Aber weder reine Nothilfe noch Unterstützung im Kampf gegen Boko Haram können die Probleme des Landes lösen.

Von Benjamin Moscovici

In Nigeria und in den angrenzenden Gebieten der Nachbarstaaten Niger, Tschad und Kamerun sind nach Angaben der Vereinten Nationen in diesem Jahr mehr als sieben Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Rund 2,5 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Mehr als 500 000 Kinder leiden an akuter Mangelernährung. Es ist eine der schlimmsten humanitären Krisen auf dem afrikanischen Kontinent.

In vielen Dörfern seien bereits alle Kleinkinder gestorben, berichten Helfer aus dem äußersten Nordosten Nigerias. In den Flüchtlingslagern kommen Menschen an und erzählen, wie sie ihre entkräfteten Familienmitglieder am Wegesrand zum Sterben zurücklassen mussten. Hilfsorganisationen und die Vereinten Nationen schlagen Alarm. Sie warnen: Wenn die Welt jetzt nichts unternimmt, könnten Hunderttausende Menschen sterben. Am Freitag trifft sich nun die internationale Gemeinschaft in Oslo zu einer Geberkonferenz, um Geld für die Nothilfe zu sammeln.

Insgesamt kämpfen in Nigeria derzeit Tausende Helfer von etwa 75 internationalen Organisationen um das Leben der Menschen. Sie ziehen in den Städten und Dörfern von Tür zu Tür, um nach Hungernden, Verletzten und Kranken zu suchen und sie zu versorgen. Millionen haben sich auf die Flucht begeben und sind bei Verwandten, Bekannten, aber auch völlig Fremden untergekommen. Maiduguri, die Hauptstadt der besonders schwer betroffenen Provinz Borno im äußersten Nordosten des Landes, ist in den vergangenen zwei Jahren von rund einer Million auf etwa zweieinhalb Millionen Bewohner gewachsen. "Die Region war schon immer eines der Armenhäuser Afrikas", sagt Toby Lanzer, Westafrika-Koordinator der UN-Nothilfeorganisation. "Es sind die Ärmsten der Armen, die hier ihr Brot mit Flüchtlingen teilen."

Dass es in dem westafrikanischen Land so weit kommen konnte, liegt vor allem daran, dass die Eliten des erdölreichen Landes die ländlichen Regionen jahrzehntelang derartig vernachlässigt haben, dass die staatlichen Strukturen außerhalb der Bevölkerungszentren in Abuja und Lagos sich nahezu vollständig aufgelöst haben: Im Norden haben sich seit den Siebzigerjahren islamistische Bewegungen formiert, die seit 2010 als Terrorgruppe unter dem Namen Boko Haram den Norden Nigerias mit Gewalt, Angst und Tod überziehen. Im Süden, im Nigerdelta, kämpfen bewaffnete Milizen gegen den Staat und sabotieren Ölpipelines. Zusätzlich zieht sich eine diagonale Schneise der Gewalt vom Nordwesten in den Südosten des Landes. Hier herrschen brutale Kämpfe zwischen einzelnen Dorfgemeinschaften und verfeindeten Milizen. Aus Entführungen, Erpressungen und Viehdiebstahl ist ein lukratives Geschäftsmodell geworden, Massaker sind an der Tagesordnung, Tausende Bauern sind auf der Flucht vor der Gewalt der marodierenden Banden.

Nigerias Probleme greifen tiefer als der Terror von Boko Haram

Jahrelang hat die Regierung Hunger, Gewalt und den Terror der Milizen ignoriert. Selbst die Bedrohung durch Boko Haram wurde erst ernst genommen, als die ersten Bombenanschläge die Großstädte erschütterten. Es ist diese gefährliche Mischung aus Ignoranz und systematischer Vernachlässigung, in der Boko Haram groß werden konnte. Lokale Beobachtungsorganisationen gehen davon aus, dass die Anhänger der Terrormiliz allein in den vergangenen zehn Jahren rund 15 000 kleinere und größere Anschläge in Nigeria verübt haben. Ähnlich wie der "Islamische Staat" in Syrien und Irak nutzte Boko Haram die Schwäche der Regierung, um in einem grausamen Siegeszug große Teile des Landes zu unterwerfen. Die Armee hatte keine Chance gegen die triumphierenden Dschihadisten. Zu lange waren große Teile des Militärhaushalts auf Privatkonten verschoben und die Ausbildung und Ausrüstung des Militärs vernachlässigt worden. Und zu gering war die Bereitschaft der Soldaten, für einen Hungerlohn und für korrupte Politiker in den Tod zu ziehen. So bedingen sich Korruption und der Erfolg der Dschihadisten.

Nirgendwo ist die Situation der Menschen derzeit so dramatisch wie im Nordosten des Landes, im Frontbereich zwischen Boko Haram und der Armee. "Jeden Tag kommen wir ein Stück weiter, kommen in zerstörte Dörfer, in denen die Ernten seit drei Jahren ausgefallen sind. Es ist furchtbar", beschreibt ein Mitarbeiter vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) die aktuelle Lage.

Obwohl die Hilfsorganisationen die Situation momentan in weiten Gebieten halbwegs unter Kontrolle haben - die Zukunft der Menschen in Nigeria ist düster: Noch immer sterben täglich Menschen an den Folgen ihrer Mangelernährung, und selbst wenn die internationale Gemeinschaft am Freitag die benötigten rund 1,5 Milliarden Dollar für die Nothilfe aufbringt - eine Lösung der Krise liegt noch immer in weiter Ferne. "Das Geld ist nur dazu da, die Not zu lindern", sagt Robert Kappel, Afrikaexperte und früherer Leiter des Hamburger Giga Instituts. "Es wird nicht reichen, um das Land wieder aufzubauen und den Menschen neue Perspektiven zu geben."

Ein Hoffnungsschimmer

Besonders ein Faktor könnte die Menschen in Nigeria empfindlich treffen: Einer der wichtigsten Geldgeber von humanitärer Hilfe in Nigeria sind die USA, und dort regiert inzwischen ein Präsident, der schon im Wahlkampf deutlich gemacht hat, dass er erst die Probleme im eigenen Land angehen will, bevor er Geld an andere zahlt.

Für das Jahr 2017 hatte die Obama-Regierung mehr als 600 Millionen US-Dollar für Nigeria eingeplant. Verbindlich zugesichert ist allerdings noch nichts. Amerikanische Afrika-Experten fürchten, dass Trumps Motto "America First" nun zu einer Kehrtwende in der US-Entwicklungspolitik führen könnte: Statt auf humanitäre Hilfe will Trump vor allem auf militärische Unterstützung im Kampf gegen die Dschihadisten von Boko Haram setzen.

Die amerikanische Unterstützung stärkt auch den Kurs des nigerianischen Präsidenten Muhammadu Buhari. Der hatte sich 1983 an die Macht geputscht, wurde zwei Jahre später auf die gleiche Weise wieder aus dem Amt entfernt und landete für fünf Jahre hinter Gittern. Mehr als dreißig Jahre nach seinem Putsch gewann er 2015 mit der Forderung nach einem harten Vorgehen gegen Korruption und einem entschiedeneren Kampf gegen Boko Haram die Wahlen.

Schon bald nach seinem Amtsantritt wurden erste Erfolge im Kampf gegen die Terrormiliz sichtbar. Doch die Hoffnungen in den neuen Präsidenten zerschlugen sich schnell. Die Reformen kratzten nur an der Oberfläche und schon bald verließen den Präsidenten die Kräfte. Seit Anfang Februar ist der schwerkranke 74-Jährige nun zur Behandlung in London. Und auch die Militäroperation gegen Boko Haram, so hoffnungsvoll gestartet, geriet zum Desaster.

"Die Armee ist wie eine Dampfwalze über das Land gezogen", sagt der Afrikaexperte Robert Kappel. "Die haben mehr Zivilisten getötet als Kämpfer und wahrscheinlich mehr Menschen zur Flucht gezwungen als der Terror der Dschihadisten."

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