Holocaust-Überlebender:Das Zittern des Saul Friedländer

Saul Friedländer

Holocaust-Überlebender und -Forscher: Saul Friedländer.

(Foto: Regina Schmeken)

Historiker Saul Friedländer erzählt - durchaus selbstkritisch - über sein Leben und seine verstörenden Erlebnisse mit der Bonner Republik.

Rezension von Dietmar Süß

Es sollte eigentlich ein schöner Abend werden. Die Suppe war noch warm und die Gespräche drehten sich um den Politiksumpf. Alle waren entspannt, auch Saul Friedländer, der große Historiker des Holocaust, der seit Herbst 1985 Gast am Berliner Wissenschaftskolleg war.

Doch noch vor dem Hauptgang wandte sich Ernst Nolte seinem jüdischen Gast aus Genf zu und fragte ihn ganz unverblümt. "Herr Friedländer, was heißt es eigentlich, ein Jude zu sein? Ist das eine Frage der Religion oder Biologie?" Friedländer schreckte auf und witterte "erste Anzeichen von Gefahr".

Nolte ließ nicht locker, überschüttete ihn mit Fragen zum "Weltjudentum" und den Gründen für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Habe sich das Weltjudentum nicht im Krieg mit Deutschland befunden? Habe es nicht Gründe gegeben, dass Hitler die Juden als Feinde betrachtete und sie als Kriegsgefangene in Konzentrationslager internieren ließ, ähnlich, wie es die Amerikaner mit den Japanern gemacht hätten?

Bald wolle er, kündigte der Historiker Nolte an, ein Buch veröffentlichen, "in dem viele Dinge ans Licht kommen, die bisher verschwiegen wurden". Jetzt reichte es Friedländer, und er bat, zusammen mit einem weiteren Gast, um ein Taxi.

"Während wir zu unserer jeweiligen Unterkunft gefahren wurden, zitterte ich buchstäblich. Dieses Zittern legte sich irgendwann, aber eine furchtbare Angst - wie ich sie seit meiner ersten Zeit in Genf nicht mehr erlebt hatte - hielt mich die ganze Zeit wach."

Das war die alte "Bonner Republik" am Vorabend des Historikerstreites.

Saul Friedländers Erinnerungen sind voll solcher empfindsamen Geschichten, die den Schmerz fühlbar machen, die der Massenmord an den europäischen Juden hinterlassen hat. Friedländer erzählt im zweiten Teil seiner berührenden Autobiografie nicht nur von seiner akademischen Karriere und den Schwierigkeiten eines jungen Holocaust-Forschers, sich in der akademischen Welt der Nachkriegszeit durchzusetzen.

Es ist auch die Geschichte eines lange angstgeplagten Menschen, den die Dämonen der Vergangenheit täglich und unvorhergesehen einholten; eine Geschichte, die vieles macht, nur nicht vergeht.

Mit seinem grandiosen Buch über "Das Dritte Reich und die Juden" erlangte Friedländer Weltruhm. Es ist bis heute das Buch über den Mord an den europäischen Juden; ein aufrüttelndes, aufwühlendes Plädoyer gegen den Zynismus des Schweigens, eine Darstellung, die berührt, den Namenlosen eine Geschichte und den Tätern ein Gesicht verleiht.

Der Historiker formuliert nachdenklich und selbstkritisch

Es war keineswegs selbstverständlich, die Erfahrungsgeschichte der Opfer so sehr in den Mittelpunkt zu stellen und diesen Zugang gegen den Vorwurf einer "mythischen Erinnerung" zu verteidigen, der weniger rational als die klassische Geschichtsschreibung sei.

An ein Ende gekommen war sein großes Projekt in dem Augenblick, als er zehn Jahre nach Martin Walser den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekam und er überlegte, wie darauf zu antworten sei. Sein Weg: Er las unveröffentlichte Briefe seiner Prager Familie vor - Dokumente voller Leid und Würde im Angesicht des Todes.

Friedländer, geboren 1932 in Prag, musste mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten nach Frankreich fliehen; seine Eltern wurden ermordet, der junge Saul überlebte in der Obhut eines katholischen Internats - für ihn später Anlass, sich intensiv und kritisch mit der ambivalenten Rolle der katholischen Kirche im "Dritten Reich" und Pius XII. zu beschäftigen, nachdem er selbst für kurze Zeit sogar Priester werden wollte.

Friedländer erzählt seine Lebensgeschichte als Geschichte unterschiedlicher Identitäten und Namen, die er im Lauf der Zeit annahm; geboren als Pavel, in Frankreich auf der Flucht vor den Deutschen, dann Paul, Shaul in Israel, nach der Rückkehr nach Frankreich Saül, dann, als Kompromiss, wie er sagte, Saul.

Sein Blick geht zurück auf die Anfänge seiner zionistischen Aktivitäten, seiner Leidenschaft für Israel und die Schwierigkeiten, den jungen Staat angesichts all der Konflikte im Nahen Osten aufzubauen.

Auch er konnte sich, wie Friedländer selbstkritisch bemerkt, während des Sechs-Tage-Krieges 1967 der "Jubelstimmung" nur schwer entziehen, die seinen Blick für die Gefahren einer friedlichen Koexistenz blind machte. Ihm sei es "peinlich, dass ausgerechnet ich, der hätte wissen müssen, was eine Besatzung den Besetzten und den Besatzern antut, das ,Menetekel' nicht sah. Wie konnte mir entgehen, dass trotz der wirtschaftlichen Vorteile, die viele Palästinenser genossen, dieser Zustand Demütigung für sich barg und es nur eine Frage der Zeit war, bis Demütigung in Rachedurst umschlagen würde, in ein Bedürfnis, dem Besatzer mit allen sich bietenden Mitteln Schmerz zuzufügen?"

Heute macht er keinen Hehl daraus, dass er äußerst kritisch gegenüber einer expansiven israelischen Siedlungspolitik ist.

Leseprobe

Einen Auszug aus "Wohin die Erinnerung führt" stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Seine Jahre als Lehrender an den Universitäten in der Schweiz, in Israel und den USA machen ihn zum Wanderer zwischen den Welten; ein scharfer Analytiker, der zugleich immer häufiger selbst unter den traumatischen Erlebnissen der Verfolgung litt.

Besonders eindringlich sind die Passagen, in denen Friedländer über die Fassade der Normalität und seine Verwundungen spricht, die er über viele Jahre mit Medikamenten bekämpft; ein "wiederkehrendes Gefühl", das irgendwann abstumpfte, aber ihn doch über weite Teile seines Lebens "als eine Art Generalbass durch Höhen und Tiefen begleitet". Dieser Generalbass dürfte ihn auch bei jenem Abendessen mit Ernst Nolte und in der Bundesrepublik der Ära Kohl begleitet haben.

Mit den Jahren wurden auch seine Begegnungen mit Deutschland intensiver. Auch entspannter? Friedländer hörte genau hin, wenn um ihn herum Intellektuelle über Israel schimpften oder die deutsche "Resistenz" gegenüber dem Nationalsozialismus allzu glorreich erschien.

Gleichzeitig spürte er doch, dass sich eine jüngere Historikergeneration der Geschichte des Holocaust mit mehr Empathie zuwandte und seine Bücher für viele ein zentraler Bezugspunkt ihres Nachdenkens über die Geschichte des Massenmordes wurden. Friedländers Erinnerungen sind ein leises Buch, nachdenklich und selbstkritisch, klar und doch wundersam in seinen Wendungen. Wie der Autor selbst.

Dietmar Süß lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg.

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