Grünen-Chefs Baerbock und Habeck:Das große Ziel: neue linke Volkspartei

Mit der Wahl von Annalena Baerbock und Robert Habeck legen die Grünen einen bemerkenswerten Neustart hin: Sie wollen das Erbe der SPD antreten, indem sie die soziale Frage neu stellen.

Kommentar von Stefan Braun, Hannover

Das muss man erst mal schaffen. Den Wahlkampf ziemlich vergeigen; den Wahltag mit einem mittelmäßigen Ergebnis beenden; nach den anschließenden Sondierungsgesprächen mit leeren Händen dastehen und wenige Wochen später trotzdem selbstbewusst zum Angriff blasen. Selten hat eine Partei nach so vielen Nackenschlägen so schnell wieder neue Kraft entwickelt.

Mit Annalena Baerbock und Robert Habeck haben sich die Grünen zwei sehr leidenschaftliche und zugleich unideologische Personen an die Spitze gewählt. Und sie haben das nicht mit großen Zweifeln getan, nicht vorsichtig, zögerlich, unsicher. Sie haben die beiden Realos ausgewählt, weil sie diese beiden unbedingt haben wollten. Sie identifizieren sich mit den beiden; sie haben sich mit Freude von ihnen anstecken lassen. Sie haben nachgerade Lust darauf, mit Baerbock und Habeck neue Macht zu erstreiten.

Die Grünen haben schon viele Vorsitzende kommen und gehen sehen. Aber die Wahl dieser beiden bringt etwas Besonderes: Die Grünen wollen mehr als jemals zuvor hart streiten und regieren. Der dafür bemerkenswerteste Satz kam von Jürgen Trittin. Er sagte, man dürfe nicht länger zwischen Parteiidealismus und Regierungspragmatismus unterscheiden. Ja, man dürfe beides nicht mehr länger gegeneinander ausspielen. Da wird neues Vertrauen möglich, wo bislang Misstrauen herrschte.

Die Partei hat bestens in Erinnerung, wie nah sie während der Jamaika-Sondierungen an der Macht dran war. Und sie spürt, wie nötige Veränderungen mit dem Scheitern von Jamaika von Union und SPD schon wieder verabschiedet werden. In Hannover hat sie das zusammengeschweißt; selten hat es auf einem Parteitag eine solche Geschlossenheit gegeben.

Dabei ist eines offenkundig: Die aktuelle Stärke der Grünen speist sich auch aus der Schwäche der Konkurrenten. Wer der SPD beim Ringen um ihre Zukunft zuschaut, muss sich Sorgen um die Volkspartei machen. Wer die Grünen in Hannover beobachtet hat, der spürt, dass diese Partei mit Habeck und Baerbock drauf und dran ist, den Sozialdemokraten auf die Pelle zu rücken. Wo bei der SPD Zweifel und Unsicherheit dominieren, haben die Grünen eine neue Führung gewählt, die nicht nur viel Leidenschaft mitbringt, sondern das größte Problem im Land zentral in den Blick nimmt: den bedrohten Zusammenhalt in der Gesellschaft.

Hinzu kommt eine Erfahrung aus den vergangenen Monaten. Ausgerechnet die gescheiterten Jamaika-Sondierungen haben bei den Grünen ein neues Gruppen- und Zusammengehörigkeitsgefühl geschaffen. Der Kampf um Kompromisse, das gemeinsame Abwägen zwischen dem Wichtigen und dem Unverzichtbaren hat der erweiterten Parteiführung in einer Art Schnellschulung vor Augen geführt, wie eng am Ende auch die beiden Flügel zusammengehören. Wenn die Partei es schafft, dieses Gefühl zu konservieren, könnten die Grünen in der Lage sein, auch ins Lager der anderen Parteien auszugreifen.

Besonders aber ist in Hannover noch etwas anderes: Habeck und Baerbock sprechen nicht mehr nur über die Rettung des Klimas und den Schutz für Flüchtlinge. Sie stellen die soziale Frage, und sie stellen sie neu. Nicht mehr nur darüber, wie groß eine Vermögensteuer sein müsste. Sie reden nicht so sehr über Instrumente; sie sprechen neu über ihre wichtigsten Ziele.

Die Grünen werden auch in Zukunft streiten

Sie wissen um das Problem von Eltern, die ihre Kinder nicht auf einen Kindergeburtstag schicken, weil sie das Geschenk nicht bezahlen können. Sie reden über die fatalen Konsequenzen, wenn Menschen auf dem Land oder in großen Städten durch zu hohe Mieten, durch zu wenig Ärzte oder den Abbau öffentlicher Strukturen ihre Heimat verlieren. Sie suchen Antworten auf die in alle Lebensbereiche ausgreifende Digitalisierung und fragen sich, was passieren muss, wenn Digitalisierung nicht nur schön und schnell ist, sondern daneben mal eben Hunderttausende Arbeitsplätze überflüssig macht.

Baerbock, Habeck, die Grünen tun also eines: Sie stellen sich die Fragen, die die Menschen heute und jetzt umtreiben. Und sie tun das mit einem hohen sozialen Anspruch. Baerbocks zentraler Satz lautet: "Die größte Schande in diesem Land ist die Armut, die keiner sieht." Und Habeck gibt das Ziel aus, die Menschen an den Rändern nicht weiter abdriften zu lassen. Deshalb müssten die Institutionen des Gemeinwesens neu gestärkt werden. Während Union und SPD sich mühsam in Richtung Koalition schleppen, bündeln die Grünen ihre Kräfte für neue Aufgaben.

Natürlich gibt es für sie keine Garantie, dass die Euphorie und Geschlossenheit dieses Parteitags auch in einem halben Jahr noch Kraft entfaltet. Die Grünen werden auch in Zukunft streiten; der Wettbewerb der Eitlen wird auch in dieser Partei nicht vorbei sein. Aber in einem Moment, in dem die meisten anderen Parteien händeringend ihre Zukunft suchen, entwickeln die Bündnisgrünen neue Kräfte und neue Ideen. Damit haben sie etwas geschafft, was zu einem großen Vorteil werden kann: Sie bringen sich ganz neu in Bewegung, während andere wie gelähmt wirken. Und das in einer Zeit, in der immer mehr bröckelt.

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