Griechenland:Hotspot auf Lesbos: Hier muss durch, wer nach Europa will

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"In der Flüchtlingskrise sind wir zum Epizentrum geworden": Wieder erreicht ein Schlauchboot von der türkischen Küste kommend die Insel Lesbos. (Foto: Aris Messinis/AFP)

Auf Lesbos entscheidet sich, ob der Kurs der Kanzlerin in der Krise Erfolg hat. 2015 kam hier eine halbe Million Flüchtlinge an, das System kollabierte. Nun ist die Lage geordneter - doch es landen wieder mehr Boote.

Von Mike Szymanski, Lesbos

War der Krisenbürokrat bloß ein schlimmer Zyniker oder hat er sich vielleicht doch etwas gedacht, als er für einen Ort wie diesen ein so furchtbares Wort wählte: Hotspot? Zwei Zaunreihen hintereinander umgeben den Hotspot, vielleicht drei Meter hoch und jeweils von Stacheldraht gekrönt. Drinnen: Zelte, Plastikhäuschen, Container. Am Eingangstor stehen Polizisten mit so breiten Oberkörpern, wie sie im Comic nur die Helden und die Bösewichte gezeichnet bekommen. Vor Schreck lässt ein kleiner Junge die Wasserflasche fallen. Die Mutter zerrt an ihm. Wer nach Europa will, muss hier durch. Dieser Platz ist eine Mutprobe.

Moria, knapp sieben Kilometer außerhalb der Hafenstadt Mitilini auf Lesbos. Dies ist weniger ein Ort als ein Zustand. Man hofft, dass er vergeht wie er gekommen ist. Aber danach sieht es nicht aus. Im Moment sind auf der griechischen Ferieninsel alle froh, wenn er funktioniert. Gleich fünf Hotspots hat Griechenland. In der Theorie sind das hocheffiziente Registrierungszentren für Flüchtlinge. Die griechischen Behörden arbeiten mit der Europäischen Asylagentur EASO, der Grenzschutzagentur Frontex und Europol zusammen.

Es sieht nicht so aus, als hätte die Türkei viel getan, um die Zahlen zu senken

Allein eine halbe Million Flüchtlinge kam 2015 über Lesbos in die EU. Im Spätsommer kollabierte die Insel, auf der 85 000 Einheimische leben. Tausende Ankömmlinge übernachteten im Freien. Das Stadion der Hafenstadt wurde zum Wartezimmer. Familien bettelten um Wasser, tagelang mussten sie unter der brennenden Sonne ausharren, bis sie ihre Papiere zur Weiterreise bekamen. Knüppel schwingende Polizisten waren im Einsatz. Flüchtlinge campierten vor dem Rathaus. Die wenigsten wollten bleiben in diesem von der Schuldenkrise gezeichneten Land. Sie kamen aber auch nicht weiter.

Seither geht es um die Frage, ob Griechenland Teil des Problems ist oder Teil der Lösung sein kann. In diesen Wochen entscheidet sich auf Lesbos, ob auch der Kurs von Kanzlerin Angela Merkel in der Krise Erfolg hat.

Lagerfeuer am Strand, die Rettungswesten gestapelt

Geht es nach Merkel, dann muss die Türkei dafür sorgen, dass in diesem Jahr keinesfalls wieder so viele Menschen in Griechenland ankommen wie 2015. Das Nachbarland soll seine Grenze besser sichern. Schlepper jagen. Flüchtlingsboote an der Küste von der Überfahrt abhalten. Dies war im November so vereinbart worden. Jetzt ist Februar, und es sieht so aus, als hätte sich nicht wirklich viel getan.

Über der Küste von Lesbos geht die Sonne auf, am Strand brennt ein Lagerfeuer. Ein Dutzend Männer und Frauen wärmen sich daran. Tee wird herumgereicht. Ein Junge, vielleicht fünf Jahre alt, geht zum Wasser und starrt aufs Meer. Anderthalb Meter von ihm entfernt liegt im Sand ein Außenbordmotor wie angespültes Treibgut. Die Rettungswesten haben die Flüchtlinge zu einem orange leuchtenden Berg gestapelt. Aus dem Schlauchboot, das ihn und seine Familie hierher gebracht hat, ist die Luft raus. Im Tiefflug donnert ein Hubschrauber der Küstenwache über die Köpfe der Gestrandeten hinweg. Sie haben es geschafft. Europa.

Suzanne Badenhorst, Religionslehrerin aus der Schweiz, hat das Licht an ihrer Stirnlampe ausgemacht. Die braucht die 37-Jährige jetzt nicht mehr. Seit Mitternacht ist sie auf den Beinen. Sie hatte nur zwei Stunden Schlaf. Dann hieß es: Raus, an den Strand. Suzanne Badenhorst sagt: "Es geht schon wieder los."

Entlang der Küste von Lesbos hat das Meer ein Flüchtlingsboot nach dem anderen ans Ufer gespült. 16 sollen es gewesen sein. Seit anderthalb Wochen hilft Badenhorst auf Lesbos. Sie gehört zu den Tausenden Freiwilligen. In ihrer Heimat Unterägeri in der Schweiz organisiert sie auch Camps, für die Kirchenjugend. "Im Grunde ist das wie hier", sagt sie. "Zelten, am Lagerfeuer sitzen. Nur in schön und im Sommer." Als am Morgen die Flüchtlinge ankamen, hätten viele erst einmal nur geheult.

Es ist 8.23 Uhr. Der grüne Bus, der die Flüchtlinge nach Moria bringen wird, hält am Strand. Rohat, eine 22-jährige Frau aus Syrien, immer noch etwas verfroren, steigt mit ihrer Familie ein. Mit 80 Stundenkilometern fährt der Bus die Uferstraße entlang. Er schlängelt sich durch Mitilini. Vorbei am Hafen, wo am Abend die Fähre aufs Festland ablegt. Wenn es gut läuft, dann erreichen sie sie vielleicht noch. Sie wollen nach Dänemark, erzählt Rohat. Griechenland ist nur eine Etappe. Der Schleuser hatte die Gruppe in Dikili an der türkischen Küste ins Boot gesetzt. Umgerechnet 700 Euro wollte er von jedem haben, bevor sie ins Boot stiegen, erzählt sie. Sie konnten die Lichter von Lesbos sehen. "Niemand hat versucht, uns daran zu hindern", sagt sie. Polizei? "Keine Polizei."

Die Anlage war früher ein Internierungslager - und sieht auch noch so aus

Als der Bus am Tor von Moria ankommt, wird es hektisch. Seit drei Uhr morgens sind schon zehn Busse angekommen. "Syrer?", ruft einer auf Arabisch. "Kommt!" Dann sieht man Rohat und ihre Familie nicht wieder. 2000 Flüchtlinge am Tag können in Moria registriert werden. Und die Anlage wächst noch. Bald sollen es 4000 sein. So gesehen macht Moria schon wieder Mut. Man sieht zwar viel Beton, viel Stacheldraht. Aber man sieht nicht mehr: Überforderung, Chaos. Anthi Karangeli hat sogar Zeit, sich für den Stacheldraht, für die Mauern zu entschuldigen. Sie rühren noch aus einer Zeit, als die Anlage als Internierungslager angelegt war und das Militär hier zu Hause war. Die Koordinatorin sagt, sie hätten andere Sorgen gehabt, als diesen Platz abzurüsten.

Im November hatte die EU unangemeldet Kontrolleure auf die griechischen Inseln geschickt. Sie hatten ein katastrophales Bild der Lage gezeichnet: Zu wenige und überforderte Beamte. Digitale Fingerabdruck-Scanner, die nicht benutzt wurden, weil die Internetverbindung zu schwach war und manche nicht wussten, wie die Geräte zu bedienen waren. Es dauerte manchmal mehr als eine Woche, bis Informationen in die elektronischen Datenbanken hochgeladen wurden. Ein großer Teil der Flüchtlinge sei von den Griechen durchgewunken worden.

Länder wie Österreich wollen Griechenland aus dem Schengen-Raum ausschließen, weil sie denken, die Griechen können es einfach nicht. Anthi Karangeli sagt: "Kommt!" Sie führt durch diesen Ort. Jetzt warten die Flüchtlinge auf Bänken vor den Containern, bis ihre Nummer aufgerufen wird. Man sieht Frontex-Beamte rauskommen und Pässe im Tageslicht begutachten. Gearbeitet wird seit Mitte Januar rund um die Uhr - auch von den Frontex-Leuten. "Wir verbessern uns jeden Tag. Wir haben das Gefühl, dass es läuft", sagt Anthi Karangeli.

Zehn internationale Nichtregierungsorganisationen haben permanent Zugang zum Lager. Sie machen Frühstück, bringen Mittag- und Abendessen. Es muss auch niemand mehr draußen schlafen, 1300 Schlafplätze hat Moria. Wenn dieses Lager voll belegt ist, dann hilft das städtische Camp "Kara Tepe" aus.

Neben dem Hotspot haben Freiwillige ein weiteres Camp aufgebaut. Ein buntes Zeltlager, in dem alte Rettungswesten als Sitzunterlagen dienen: "Better Days for Moria", heißt es. Es entstand, als der Staat nebenan versagte. Darren Smith, 50, sonst von Beruf passenderweise Schadensregulierer, sagt: "Wenn drüben alles perfekt laufen würde, dann bräuchte es uns nicht."

Die besseren Tage für Moria brechen erst an, wenn sie hier ihre Zelte abbauen können. Aber diesen Moment sehen sie noch lange nicht gekommen. "Europa hat zwei, drei Jahre zu lange gewartet", sagt er. Und wie schwer sich die EU immer noch tut, beherzt zu helfen, das macht ihn wütend.

Im Zentrum von Mitilini geht gerade der Gottesdienst zu Ehren des Schutzheiligen Theodoros zu Ende. Zwei Frauen kommen aus dem geschmückten Gotteshaus. "Die Insel ist am Ende", sagt die eine. Es seien zu viele Flüchtlinge. Bettelnde Kinder verscheucht sie wie streunende Hunde.

Der Bürgermeister spricht von der Selbstverständlichkeit zu helfen

Bürgermeister Spyros Galinos zeichnet ein anderes Bild seiner Insel. Er erzählt von der Gelassenheit, mit der die meisten Bewohner sich der Aufgabe stellten. Von der Selbstverständlichkeit, zu helfen. "In der Flüchtlingskrise sind wir zum Epizentrum geworden." Und die Insel habe zusammengehalten. Von den meisten Regierungen Europas fühlt auch er sich allein gelassen. Ein Trost seien die vielen Freiwilligen. Er denkt schon an die Zeit nach der Krise, wenn Lesbos sich neu erfinden muss, damit die Touristen wiederkommen. Aber dieser Tag ist nicht der richtige für solche Träumereien.

Schon am Morgen zählt die Küstenwache wieder 700 Ankömmlinge allein auf Lesbos. An diesem Tag werden es auf allen griechischen Inseln 4611 Flüchtlinge sein. Seit Jahresbeginn kamen laut Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerk gut 88 000 Migranten aus der Türkei nach Griechenland. Vor ein paar Tagen stiegen die Zahlen wieder stark an. So kamen von Dienstag bis Freitag 11 000 Menschen. Zu viele, als dass man daraus schon einen Erfolg für Merkel ableiten könnte. Zwei Wochen gibt sie den Türken noch, um zu zeigen, dass sie auf den richtigen Partner gesetzt hat. Dann kommen die EU-Länder zum Sondergipfel zusammen. Dann wird abgerechnet.

© SZ vom 22.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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