Grenzen des Grundgesetzes:Wegweiser zu den europäischen Sternen

Mit der Ausweitung des Euro-Rettungsschirms ist Deutschland am Ende des alten Grundgesetzes angelangt. Es reicht nicht mehr aus, um immer höhere Milliardenbürgschaften zu gewähren und damit die europäische Zukunft zu sichern. Noch mehr Europa wird es nur mit einer neuen Verfassung geben - und mit der Zustimmung der Bürger. Ein Volksentscheid ist unabdingbar.

Heribert Prantl

Geschichte ist, wenn es kracht: Früher wurden historische Tage von Kanonaden eingeleitet; historische Tage hatten stets etwas mit Krieg und Sieg und Niederlage zu tun. Weil das so im kollektiven Gedächtnis gespeichert ist, hat man den vergangenen Tagen ihre Historizität nicht unbedingt angemerkt: Es kracht nichts - nur der Euro knarrt, Griechenland ächzt und Italien stöhnt.

Um den Euro zu stützen, hat der Bundestag eine Bürgschaft für eine ungeheuerliche Summe geleistet; es ist nicht die erste dieser Bürgschaften. Sie alle dienen nicht nur der Stabilisierung, sondern auch der Erweiterung der Europäischen Währungsunion; aus ihr wird eine Wirtschaftsunion, eine Sozialunion, eine Transferunion - also ein Staat.

Der Weg dahin ist offensichtlich mit Bürgschaften gepflastert. Es ist aber dies ein Weg, der den Boden des Grundgesetzes verlässt, der also eine neue verfassungsrechtliche Grundlegung braucht. Ist das schlecht? Nein. Im Gegenteil: Es ist gewiss nicht das Schlechteste, was man über Deutschland sagen kann, wenn auf diese Weise die europäische Solidarität den Vorrang vor nationaler Selbstbehauptung erhält.

Mehr Europa unter dieser Nummer

Das Grundgesetz hat, 62 Jahre lang, auch den Weg nach Europa gewiesen; es war ein Wegweiser zu den europäischen Sternen. Die deutsche Politik ist dieser Weisung gefolgt, nicht immer auf geradem Weg. Sie hat Vertrag um Vertrag unterschrieben, Verträge, die den Namen verschiedenster europäischer Städte tragen - Rom, Brüssel, Luxemburg, Den Haag, Maastricht, Amsterdam, Nizza, Lissabon - und schon damit zeigen, wie weit man gekommen ist.

Aber nun ist man dort angekommen, wo der Bundesstaat Europa beginnt. So weit reichte das Grundgesetz noch. Als Verfassung für ein Deutschland als Teil eines europäischen Staats reicht es nicht mehr. Es verweigert sich einer weiteren Ab- und Aufgabe von souveräner Staatlichkeit - weil der Kern der deutschen Staatlichkeit vom alten Grundgesetz unabänderbar garantiert ist. Europa ernährt sich aber von den Mitgliedsländern. Diese geben Souveränitätsrechte ab und füttern damit die EU. Anders geht es nicht, denn von nichts kommt nichts.

Deutschland ist daher am Ende des alten Grundgesetzes angelangt - buchstäblich und im übertragenen Sinn. Buchstäblich deshalb, weil der letzte Artikel vorschreibt, wie es weitergehen muss; Artikel 146 verlangt einen Volksentscheid für den Fall, der jetzt eintritt: Die Grundgarantien und Grundprinzipien des alten Grundgesetzes können nur mit einer neuen Verfassung geändert werden. Und nur auf dem Weg des Volksentscheids darf die deutsche Staatlichkeit substantiell eingeschränkt und an Europa übertragen werden.

Noch mehr Europa gibt es nur mit einer neuen Verfassung und der Zustimmung des Volkes. Mehr Europa gibt es also - nur - unter dieser Nummer: 146 Grundgesetz. Die Euro-Rettungsaktionen haben diesen Artikel, die letzte Seite des Grundgesetzes aufgeschlagen. Diese Erkenntnis ist in den Milliardengebirgen der Bürgschaften untergegangen; aber es ist so. Und es ist auch aus den letzten Europa-Urteilen des Verfassungsgerichts herauszulesen. Es sind wirklich historische Tage. Sie werden nicht von Kanonaden, sondern von Bürgschaften begleitet.

Was Deutschland vergoldet hat

Es gab einmal eine Verfassung, die ihren Glanz im Namen trug; sie hieß "Goldene Bulle" und stammt aus dem Jahre 1356. "Bulle" ist ein alter Name für Urkunde, und die Goldene Bulle war die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Golden hieß sie, weil ihr Wachssiegel in einer goldenen Kapsel steckte. Das Grundgesetz hat noch niemand als "goldenes Grundgesetz" bezeichnet, obwohl es diesen Namen verdient - wegen seines Inhalts. Wenn man für das Schwarz-Rot-Gold in den deutschen Farben jeweils ein Bezugsobjekt sucht, dann steht das Grundgesetz für "Gold". Das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip, das Sozialstaatsprinzip, auch das der Bundesstaatlichkeit - es sind die Goldbarren des Grundgesetzes.

Mit diesen Goldbarren ist nun seit Jahrzehnten gearbeitet worden. Sie wurden gewalzt und gehämmert, das Verfassungsgericht war daran wesentlich beteiligt. Ein Gramm Gold ergibt, zu Blattgold verarbeitet, einen halben Quadratmeter Fläche. So ähnlich war es mit den Garantien und Prinzipien des Grundgesetzes: Sie haben die ganze Bundesrepublik vergoldet. Nun hat Blattgold zwar die Eigenschaft, dass man es fast unendlich dünn machen kann - aber für ganz Europa reicht es nicht.

Deutschland erlebt in diesen Tagen die Endlichkeit seines Grundgesetzes: Es reicht nicht mehr aus, um immer höhere Milliardenbürgschaften für den Euro und für die Nachbarländer zu gewähren. Es reicht nicht mehr aus, um damit die europäische Zukunft zu sichern.

Das Grundgesetz ist zwar sehr europafreundlich; aber es ist für Deutschland gemacht, nicht für Europa. Es konstituiert die Staatlichkeit der Bundesrepublik, nicht die Staatlichkeit der Europäischen Union. Es ist die Lebensordnung der Deutschen, nicht die der Europäer. Es bindet die deutschen Gewalten, nicht die in Europa. Es sichert die Gewaltenteilung in der Bundesrepublik, nicht die in der EU. Es ist Basis für die deutsche Demokratie, nicht Grundlage für eine europäische.

Weil aber das Grundgesetz ein weises Gesetz ist, hat es den Weg nach Europa gewiesen. Es hat nun insoweit seine Aufgabe erfüllt. Als Verfassung für ein Deutschland als Teil eines europäischen Staatsgebildes reicht die Verfassung nicht. Ein Wegweiser kann zum Ziel weisen. Eine Landkarte für den Ort, zu dem er gewiesen hat, ist er nicht.

Der unabdingbare Volksentscheid

Der europäische Staat kommt freilich nicht aus dem Nichts, er ist keine creatio ex nihilo. Er ist der Höhepunkt der europäischen Geschichte: "Machten wir eine Bilanz unseres geistigen Besitzes auf, so würde sich herausstellen, dass das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. Vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut" - so hat das der spanische Philosoph Ortega y Gasset beschrieben. Es gilt, aus dem Fundus ein Fundament zu machen.

Nein, dieses Fundament kann nicht auf den Trümmern der Nationalstaaten stehen. Wer die einzelnen Staaten zertrümmern will, um darauf Europa zu bauen, hat von Europa wenig verstanden. Europa zerschlägt nichts, Europa fügt zusammen. Der Euro gehört zum Kitt. Es ist nicht ganz falsch, wenn die Kanzlerin sagt, "der Euro ist Europa". Aber Europa ist sehr viel mehr als der Euro. Die Union wurzelt in politischen, nicht in monetären Optionen.

Die Einigkeit der Regierungsparteien CDU/CSU und FDP sowie der Oppositionsparteien SPD und Grüne bei den Euro-Rettungspaketen war und ist groß. Diese Einigkeiten sollten ausreichen, um nun den unabdingbaren Volksentscheid vorzubereiten; er muss sein, alsbald nach der Krise. Wie lässt sich Demokratie in Europa, in einer Union von 450 Millionen Bürgern, verwirklichen? Am besten so, dass man couragiert damit anfängt.

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