Gaza:Politische Energien, die aus Ruinen kommen

Gaza: In Wartestellung: Ein zerstörtes Haus im Stadtteil Schedschaija in Gaza-Stadt - und keine Aussicht auf Zement. Der Aufbau in dem Palästinensergebiet kommt nicht voran, die Spannungen nehmen zu.

In Wartestellung: Ein zerstörtes Haus im Stadtteil Schedschaija in Gaza-Stadt - und keine Aussicht auf Zement. Der Aufbau in dem Palästinensergebiet kommt nicht voran, die Spannungen nehmen zu.

(Foto: AFP)
  • Knapp ein Jahr nach dem letzten Krieg ist der Wiederaufbau in Gaza kaum vorangekommen.
  • Die Bürger zeigen offen ihre Wut gegen die regierende Hamas.
  • 2000 Jugendliche sind im April für Wiederaufbau und Freiheit auf die Straße gegangen, neue politische Energien entstehen.

Von Peter Münch, Gaza-Stadt

Der Weg führt durch Trümmer, wie sollte es anders sein. Hinauf durchs Treppenhaus ohne Geländer, vorbei an Wänden mit klaffenden Einschusslöchern, an eingestürzten Decken und verbogenen Eisenstreben - bis endlich das Ziel erreicht ist, der Ort der letzten Hoffnung und allzu oft auch der Enttäuschung und der Wut. Bei stickiger Luft sitzen die Antragsteller auf Plastikstühlen, die Männer in Trainingsanzügen, die Frauen schwarz verschleiert.

Sabrin Mansur, 30 Jahre alt und von resoluter Natur, kommt jeden Monat hierher, manchmal macht sie sich auch schon nach zwei Wochen wieder auf den Weg. Und jedes Mal bringt sie dieselbe Frage mit: "Wann hört dieses Elend endlich auf? Wann bekommen wir endlich Zement, um unser Haus wieder aufzubauen?"

Gaza im Sommer 2015, knapp ein Jahr nach dem letzten Krieg, das ist eine Welt in Wartestellung. Die einen warten hier in der zentralen Registrierungsstelle für Kriegsschäden auf Coupons für Zement, der wegen der Blockade und der geschlossenen Grenze nach Ägypten allein aus Israel geliefert werden kann. Die anderen warten zu Hause auf irgendein Zeichen der Hoffnung. Die meisten warten vergeblich.

Nach großzügigen Zusagen auf einer Geberkonferenz in Kairo, bei der die internationale Gemeinschaft 4,3 Milliarden Euro für den Wiederaufbau Gazas versprochen hatte, hat sich die Welt wieder ihren Alltagsgeschäften zugewandt. Nur selten kommt ein so hochrangiger Abgesandter vorbei wie der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der für den kommenden Montag einen Abstecher in den palästinensischen Küstenstreifen plant. In Gaza aber bleibt der Alltag Ausnahmezustand für 1,8 Millionen dort eingeschlossene Menschen, von denen mehr als 60 000 immer noch kein neues Dach über dem Kopf haben. Sie leben zusammengepfercht in UN-Schulen, sie hausen in Zelten oder Containern - oder sie haben sich wie Sabrin Mansur mit ihrem Mann Hamad und den sechs Kindern in den Ruinen eingerichtet.

"Die Regierung lässt uns im Stich", schimpft der Familienvater, "ich bin fertig"

Die Familie Mansur lebt im Stadtteil Schedschaija, wo im Krieg die heftigsten Kämpfe tobten. "Unser Haus wurde über unseren Köpfen zerstört", sagt Sabrin. Drei Tage mussten sie im Gefechtsgetöse ausharren, bis sie mit Hilfe des Roten Kreuzes in Sicherheit gebracht werden konnten. Die unteren Stockwerke des Gebäudes sind inzwischen wieder notdürftig hergerichtet, dort wohnen drei Brüder ihres Mannes mit ihren Familien. Doch im vierten Stock, wo Hamad und Sabrin Mansur mit den Kindern lebten, sind nicht einmal die Wände stehen geblieben. Von Wohnstube, Küche und Kinderzimmer aus herrscht freier Blick auf den Himmel und die Verwüstung ringsherum.

Mit ein paar Säcken Zement, die er auf dem Schwarzmarkt besorgt hat, und ein paar rostigen Eisenstangen, die er irgendwo aufgeklaubt hat, versucht sich Hamad Mansur nun im Alleingang am Wiederaufbau. Ein paar Mauern sind schon hochgezogen, doch ohne Hilfe ist das alles nicht zu schaffen. Und Hilfe - da kann Hamad Mansur noch so schreien, wenn er seine Geschichte erzählt - ist nirgends in Sicht im Gazastreifen. "Die Regierung lässt uns im Stich, keiner kümmert sich um uns, wir müssen ihnen immer hinterherlaufen", schimpft er. "Ich habe nichts mehr, ich bin fertig."

Die Verzweiflung ist größer als die Angst vor Repressionen

Die Wut richtet sich mittlerweile offen gegen die herrschende Hamas. Die Verzweiflung ist größer als die Angst vor den Repressionen der Islamisten, und das muss auch einen eifrigen Beamten wie Dr. Jawad Alagha aus dem Wohnungsbauministerium alarmieren. "Wenn sich die Lage nicht bessert, wird es eine Explosion geben", sagt er voraus. Doch seine Prognosekraft erlahmt schnell bei der Frage, ob sich diese Explosion dann gegen die Hamas richten könnte. "Niemand kann die Richtung vorhersagen", sagt er ausweichend, "aber der Hauptgrund für alles Leid sind die Israelis."

Immerhin kann die Regierung wenigstens ein gelungenes Beispiel für Wiederaufbau präsentieren: Das Bauministerium residiert in einem nagelneuen Gebäude mit Marmortreppen und Alufenstern. Leise surrt die Klimaanlage im Besprechungsraum, Dr. Alagha hat es sich auf einem Ledersessel bequem gemacht, an dessen Unterseite noch die Plastikfolie klebt. In der Hand hält er einen Zettel mit den wichtigsten Daten: "12 600 Wohnungen wurden total zerstört, 13 000 ernsthaft beschädigt - und keine davon konnte bislang repariert werden." Fortgeschritten sei lediglich die Reparatur der nur teilweise beschädigten Wohnungen, deren Zahl Alagha sehr hochgegriffen mit 150 000 angibt. Als Grund für die Misere nennt er den Mangel an Zement. "Die tun so, als handele es sich um radioaktives Uran und nicht um Baumaterial", wettert er und liest die passenden Zahlen vom Zettel ab: "Von Kriegsende bis Mitte Mai sind insgesamt 427 000 Tonnen Zement in den Gazastreifen gekommen, das sind nur 6,37 Prozent des errechneten Gesamtbedarfs."

"In diesem Tempo wird der Wiederaufbau mehr als 15 Jahre dauern"

Die schleppende Lieferung von Baumaterialien liegt am komplizierten Kontrollmechanismus, den Israel mit den Vereinten Nationen und der Palästinenser-Führung in Ramallah vereinbart hat. Ziel ist es, zu verhindern, dass die Hamas Zement abzwackt, um damit neue Tunnel unter der Grenze nach Israel hindurch zu bauen. Dass diese Tunnel bereits wieder gegraben werden, wie Israels Armee behauptet, will Alagha natürlich nicht bestätigen. Doch er hält die vereinbarten Kontrollen für völlig überzogen. "In diesem Tempo wird der Wiederaufbau mehr als 15 Jahre dauern", rechnet er vor. "Wir können die Kriegsschäden nicht beseitigen ohne eine Aufhebung der Blockade und einen absolut freien Zugang zu Baumaterial."

Israel jedoch verfolgt weiter das Konzept, die Hamas mit der seit 2007 bestehenden Blockade unter Druck zu setzen. Bislang hat diese Methode schon zu drei Kriegen geführt. Denn immer, wenn es innenpolitisch eng wurde für die Hamas, hat sie zur Ablenkung den Konflikt mit Israel eskalieren lassen. In der Not schart sich die Bevölkerung dann immer wieder um die bankrotten Herrscher, die sich plötzlich wieder als Kraft des Widerstands präsentieren können. Ein Ende dieses Teufelskreises ist nicht in Sicht - zu sehen ist allein, dass die inneren Probleme für die Hamas gerade wieder gefährlich anwachsen.

2000 Jugendliche gingen im April für Wiederaufbau und Freiheit auf die Straße

Die Kassen sind so leer, dass nicht einmal mehr der Sold der Sicherheitskräfte ausgezahlt werden kann. Deren Loyalität jedoch ist lebenswichtig für das Regime, weshalb jüngst ein Bündel neuer Steuern eingeführt wurde. Dies wiederum lässt die Unzufriedenheit der Bevölkerung wachsen - und herausgefordert wird die Hamas inzwischen von mehreren Seiten. Zum einen gibt es erste Anzeichen, dass sich wegen des idealen Nährbodens für Extremisten aller Art auch Anhänger des Islamischen Staats in Gaza ausbreiten.

Von Zeit zu Zeit machen sie bereits mit kleineren Bombenanschlägen auf sich aufmerksam. Die Hamas reagiert mit eiserner Faust und räumt auf unter den Salafisten in ihrem Reich. Womöglich noch bedrohlicher für die Herrscher ist jedoch eine anwachsende Jugendbewegung, die sich Ende April erstmals mit 2000 Leuten auf die Straße wagte, um für Wiederaufbau und Freiheit zu demonstrieren. Damals wurde der Protest mit Prügel und Verhaftungen bestraft.

Doch nun plötzlich hat die Hamas den Führern dieser Bewegung einen Dialog angeboten. Treffpunkt ist der Keller des "Adam Hotels", dort sitzen nun ein paar junge Männer mit den Spitzenvertretern des Innenministeriums und der Sicherheitsdienste zusammen. Die Würdenträger verschwinden hinterher zum Beten, die jungen Protestführer der "Bewegung 29. April" gehen ins Café und berichten von einer Staatsmacht, die offenbar den Kontrollverlust fürchtet. "Die Hamas von heute ist nicht mehr die Hamas aus den Zeiten der Machtübernahme von 2007", meint Jamal Yaghi, Sprecher der Bewegung, "sie schneiden sich ja sogar schon die Bärte kürzer."

Doch natürlich ist es selbst bei kürzeren Bärten immer noch ein Wagnis, sich mit den Islamisten anzulegen. Jamal Yaghi weiß das, schließlich sind er und seine Freunde schon mehr als 20 Mal festgenommen worden in den letzten Jahren. "Aber als Jugendbewegung haben wir einen Traum, und wir arbeiten weiter daran, die Situation zu verändern", sagt er. "Wir haben keine Jobs, wir haben keinen Spaß im Leben - wieso sollen wir noch Angst haben, etwas zu verlieren?"

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