Gauck beim Fürsorgetag:"Erst kommen die Überstunden, dann die Überforderung"

Lesezeit: 3 min

Bundespräsident in Leipzig: Joachim Gauck (von links) mit Leipzigs Bürgermeister Burkhard Jung und Johannes Fuchs vom Fürsorgeverein (Foto: dpa)
  • Beim Fürsorgetag in Leipzig weist Bundespräsident Gauck auf die Arbeitsbedingungen in der sozialen Arbeit hin. Stress und Zermürbung bedrohten oft das Engagement.
  • Zugleich warb er für mehr Transparenz und Innovationen im Sozialbereich.
  • Familienministerin Schwesig stellte sich im Tarifkonflikt in der Kinderbetreuung erneut deutlich hinter die Erzieher.

Von Kim Björn Becker, Leipzig

Wenige Minuten hat er Zeit, der Bundespräsident, so sieht es das Protokoll vor. Das reicht für einen kurzen Wortwechsel, nicht mehr. Und so rauscht die Delegation des Staatsoberhaupts an diesem Dienstagmittag an den Messestand des Deutschen Berufsverbands für Soziale Arbeit: Hände schütteln, Hallo sagen, derweil klicken die Kameras.

Ein paar Sätze wechseln die Seiten, dann muss Joachim Gauck weiter, die Mitarbeiter des Bundespräsidialamts achten aufs Tempo. Verbandschef Michael Leinenbach und sein Kollege aus dem geschäftsführenden Vorstand, Thomas Greune, stehen ein wenig verloren da, kaum dass Gauck wieder weg ist. Immerhin, sagt Greune, habe man Gauck kurz den Verband vorstellen können, der sich mit seinen derzeit 6000 Mitgliedern als größte Gewerkschaft für Sozialarbeiter versteht.

Etwa eine Stunde zuvor betrat Gauck nebenan die Bühne des Hauptsaals im Leipziger Kongresszentrum, um den Deutschen Fürsorgetag zu eröffnen. Seit 80 Jahren richtet der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge die Tagung aus, in der es, so lautet zumindest der Anspruch der Organisation, um die jeweils drängendsten Fragen der Sozialpolitik in Deutschland gehen soll. In diesem Jahr haben sich mehr als 2000 Personen angemeldet, bis Freitag sind Dutzende Vorträge und Workshops angesetzt.

Gauck mahnt mehr Transparenz an

Festredner Gauck zeigt sich in der Rolle des Mahners: Er wisse, dass die Realität der sozialen Arbeit "nicht nur erfreulich ist", sagte Gauck vor mehreren hundert Zuhörern. "Stress und Zermürbung bedrohen oft das Engagement." Dies gelte vor allem in Krankenhäusern und Pflegeheimen. "Erst kommen die Überstunden, dann die Überforderung", sagte Gauck. Der Bedarf an Pflegefachkräften könne schon heute nicht gedeckt werden und die Erwartungen an die Auszubildendenzahlen in der Alten- und Krankenpflege blieben hinter den Erwartungen zurück.

Zugleich warb Gauck für mehr Transparenz im Sozialbereich und mahnte damit indirekt mehr Effizienz bei den Ausgaben an. Es müsse eine "Debatte um den besten Einsatz der Mittel geben", forderte er. Eine Transparenzinitiative würde der Sozialbranche "sehr viel mehr nutzen als schaden". Im Ergebnis würde es auch mehr Menschen geben, "die ihre Steuern mit dem Gefühl zahlen, das ist gut so, das kommt unserem Land zugute".

Gauck regte außerdem Innovationen in der Sozialbranche an. "Wir müssen uns neu organisieren, unsere Interaktionen, die Art und Weise, wie wir Probleme gemeinsam angehen", sagte er. In den vergangenen Jahren habe der Sozialsektor eine "enorme Professionalisierung erfahren", die Instrumente der Betriebswirtschaftslehre würden heute als "wünschenswerte Bestandteile der sozialen Arbeit" gelten, so Gauck. Zugleich könne er jene gut verstehen, die eine Ökonomisierung des Sozialwesens aufgrund der moralischen Dimension etlicher Fragen kritisch beurteilten.

Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) nutzte ihre Rede auf dem Leipziger Fürsorgetag, um sich im Tarifkonflikt in der Kinderbetreuung abermals hinter die Erzieher zu stellen. "Fürsorge heißt auch, dass wir uns um die sorgen, die eine so wichtige Aufgabe übernehmen", sagte Schwesig. Dies gelte nicht nur für Erzieher, sondern auch für Sozialarbeiter und Pflegekräfte.

Schwesig fordert "schleunigst" Pflegereform

Insbesondere in der Versorgung Pflegebedürftiger zeige sich eine zentrale Herausforderung des Fürsorgesystems. Dies betreffe oft Familien: Kaum seien die Kinder erwachsen und aus dem Haus, werde ein Elternteil pflegebedürftig, so Schwesig. "Wir müssen daher die professionellen Angebote ausweiten."

An die Adresse von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) gerichtet, sagte Schwesig, es sei Zeit, dass die zweite Stufe der von der Koalition verabredeten Pflegereform "schleunigst" komme. Gröhe hatte angekündigt, das sogenannte Pflegestärkungsgesetz II noch vor der parlamentarischen Sommerpause, die Anfang Juli beginnt, vorzustellen. Mit dem Gesetz sollen fünf Pflegegrade eingeführt werden, welche die bisherigen drei Pflegestufen ersetzen.

Eine weitere Herausforderung bestehe in der gesellschaftlichen Integration von Asylsuchenden, sagte Schwesig. Der Bund müsse die Kommunen stärker unterstützen, da sonst "sozialer Sprengstoff" entstehe, wenn eine Gemeinde etwa eine marode Schule nicht sanieren könne, weil sie ihr Budget für den Ausbau von Flüchtlingseinrichtungen benötige. Beides müsse möglich sein, sagte die Ministerin.

Am Mittwoch wird Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beim Fürsorgetag in Leipzig erwartet, sie will dort eine sozialpolitische Grundsatzrede halten.

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: