Folgen des Bebens:Japan - erstarrt in Depression

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Disziplin und Geschlossenheit sind Japans Kapital in der Krise. Doch jetzt muss das Land die Schattenseite seiner politischen und gesellschaftlichen Ordnung analysieren - der Schock über die Katastrophe ist zu groß.

Stefan Kornelius

Kontinuität ist ein Schlüsselbegriff zum Verständnis von Gesellschaft und Politik in Japan. Nirgendwo ist sie stärker zu beobachten als beim Kaiserhaus, das in seiner ganzen symbolischen Kraft für die Einheit und Geschlossenheit des Landes steht. Das Kaiserhaus blieb der Form halber bestehen, als die Schogune ihre Feudalherrschaft ausübten, als das Land im 19. Jahrhundert tiefgreifende Reformen durchschritt und als die Nation aus dem Desaster des Zweiten Weltkriegs auferstand - immer garantierte das Herrscherhaus die Bewahrung der Errungenschaften und symbolisierte die behutsame Hinführung an die Moderne.

Angesichts der Katastrophe zeigen die Japaner beinahe stoisch anmutende Duldsamkeit: Helfer bergen eine Leiche in der Präfektur Iwate. (Foto: AFP)

Kontinuität und Geschlossenheit sind auch jetzt wieder die Begriffe, die mitten in der Krise den Japanern Hoffnung geben sollen. Ministerpräsident Naoto Kan wollte dieses Wir-Gefühl befördern, als er den Landsleuten die Dramatik des Augenblicks verdeutlichte und von der schwersten Krise des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg sprach.

Dieser japanische Gesellschaftsvertrag, diese fast schon stoisch anmutende Duldsamkeit, die starke innere Einheit der Menschen - sie sind Japans stärkstes Kapital in der Zeit der Krise. Der japanische Gesellschaftskleber war es, der das Land im späten 19. Jahrhundert zum ersten asiatischen Nationalstaat werden ließ, und der die nun so augenfälligen Charakteristika einer ganzen Nation hervortreten lässt: Rücksicht, Unterordnung, Selbstkontrolle. Selbst der Regierungschef trägt die hellblaue Weste der Arbeiter, weil er einer von allen sein möchte, weil in der Krise alle gleich sind im Staat.

Diese unzerbrüchliche Solidarität zwischen Bürger und Staat ist in kaum einem zweiten Land der Erde so stark ausgeprägt. Das mag aufgeklärten, liberalen Völkern befremdlich erscheinen, entwickelt nun aber erst einmal eine beruhigende Wirkung in der Katastrophe. Gesellschaftliche Regeln, nicht einfach nur Gesetze, entfalten in Japan eine stabilisierende Kraft - Regeln über den Umgang miteinander, die Hierarchisierung der Gesellschaft, die disziplinierte Zurückhaltung in der Masse.

All dies kann die bemerkenswerte Überlegtheit erklären, mit der die meisten Japaner - zumindest bis jetzt - auf das Beben, den Tsunami und die mögliche Nuklear-Katastrophe reagiert haben. Während in Deutschland, 8900 Kilometer entfernt, eine in Anbetracht der vielen Tausend Opfer merkwürdig selbstbezogene Aufgeregtheit um die Atompolitik herrscht, erduldet die drittmächtigste Wirtschaftsnation der Erde ihr Schicksal - und versucht es zu wenden. Japan hat viele Naturkatastrophen erlitten und ist mit seinem Technik-Glauben auch immer wieder an ihnen gewachsen.

Das gewaltige Neuner-Beben freilich lässt sich nicht mit ein paar nationalen Eigenschaften und einer Ladung Stoizismus aussitzen. Vielleicht muss man der Nation zugute halten, dass sie sich gerade in einer Art Schock befindet und die Krise zunächst in eingedrillter Routine abarbeitet. Sollte der Schock aber weichen, dann wird Japan die Schattenseite seiner politischen und gesellschaftlichen Ordnung analysieren müssen. Dann werden sich Schwächen offenbaren, die das Land schon vor dem Beben im Zustand der Dauerkrise hielten.

Der feindliche Bruder der japanischen Kontinuität ist die Beharrung - und die Beharrungskräfte im Land sind immens. Sie halten die Nation in einer Dauerwirtschaftskrise und lähmen die Politik. Japan ist die am stärksten verschuldete Industrienation der Welt - die Staatsverschuldung liegt 226 Prozent über der jährlichen Wirtschaftsleistung (in Deutschland sind es 75 Prozent).

Auch wenn das Land zuletzt moderate Wachstumszahlen melden konnte, so bleiben die strukturellen Mängel besorgniserregend: Japans Bevölkerung überaltert dramatisch schnell, die Sozialsysteme sind überfordert, die vielgerühmte Mittelschicht schrumpft und macht einem Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich Platz, so wie es länger schon in den reichen Industrienationen im Westen zu beobachten ist.

Vor allem aber wurde Japan zum Zuschauer wichtiger politischer Trends in der Welt - und auch in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Den wirtschaftlichen und politischen Aufstieg der ostasiatischen Staaten hat Japan aus einer Depressions-Starre beobachtet. Anstatt sich an die Spitze einer demokratischen Bewegung in der Region zu setzen, verfolgten die sich schnell ablösenden japanischen Regierungen und die inzestuöse politische Klasse, wie sich die Nachbarschaft an den neuen Kraftzentren, vor allem an China und Indien, ausrichtete. Das japanische Modell wurde unattraktiv: politisch erstarrt, innovationsfeindlich und selbstbezogen. Japans rückwärtsgewandter Umgang mit der eigenen Geschichte zementierte lediglich die Isolation, in die sich die politische Klasse begeben hat.

Das Beben und die nukleare Bedrohung haben urplötzlich deutlich gemacht, dass diese disziplinierte Nation hilfebedürftig ist. Die Japaner erleben die Prüfung ihres Lebens. Sie werden, sollte die Gefahr erst gewichen sein, die Regeln überprüfen müssen, die alle Kontinuität erst möglich macht. Noch aber gilt: So wichtig die Sicherheit der Reaktoren in Kalifornien oder Krümmel ist, so wünschenswert der Ersatz der Atomkraft durch neue Energien wäre - die Katastrophe spielt sich in Japan ab.

© SZ vom 15.03.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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