Flüchtlingspakt:Erstes Flugzeug mit Flüchtlingen in Hannover gelandet

Lesezeit: 4 min

  • Im Morgengrauen hat Griechenland damit begonnen, Flüchtlinge in die Türkei zurückzubringen.
  • Zwei Schiffe mit insgesamt 202 Menschen an Bord haben die Insel Lesbos verlassen, teilte ein Sprecher des griechischen Krisenstabes mit.
  • Kurz darauf landete in Hannover ein Flugzeug mit den ersten syrischen Flüchtlingen, die aufgrund des Flüchtlingsdeals legal in die EU einreisen durften.
  • Im türkischen Dikili protestieren Anwohner gegen die Ankunft der Migranten.

Von Mike Szymanski

Jetzt ist er gekommen, der Tag, der Linderung in der Flüchtlingskrise bringen soll, wenn nicht gar die Lösung. Der Flüchtlingspakt zwischen der Europäischen Union und der Türkei greift, die große Verschiebung von Flüchtlingen hat begonnen.

Dieser Montag steckt voller Unsicherheiten, und vor allem auch voller Angst. Weil es am Ende doch um Menschen geht. Monatelang kannten die Flüchtlinge nur eine Richtung. Nur raus aus dem Bürgerkriegsland Syrien. Nach Europa. An manchen Tagen haben Dutzende Schlauchboote vor Sonnenaufgang an der türkischen Küste in Richtung griechischer Inseln abgelegt, vollgepfropft mit Flüchtlingen und Hoffnungen. Nicht alle Boote kamen an. Die Ägäis ist in diesen Monaten zu einem gigantischen Friedhof geworden.

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Griechenland setzt den Deal um. Per Schiff werden erstmals Hunderte Flüchtlinge in die Türkei zurückgebracht. Im Gegenzug landen 32 Syrer in Deutschland.

Nun sind zum ersten Mal zwei Schiffe gegen den Strom gefahren. Von Europa zurück in die Türkei. Busse brachten am Montagmorgen Dutzende Migranten zum Hafen der Insel Lesbos, wie das griechische Fernsehen zeigte. Die Menschen wurden von Beamten der EU-Grenzschutzagentur Frontex begleitet. Das erste Schiff mit 136 Menschen an Bord lief anschließend ins türkische Dikili aus, kurz darauf legte auch das zweite Schiff ab. Insgesamt seien 202 Menschen in die Türkei gebracht worden, teilte der Sprecher des Krisenstabes, Giorgos Kyritsis, im Staatsfernsehen mit. An Bord seien nur Männer. Der Plan der Küstenwache und der EU-Grenzschutzagentur sieht vor, dass bis Mittwoch mehr als 750 Asylsuchende in die Türkei zurückgebracht werden.

Kurz darauf landeten die ersten syrischen Flüchtlinge in Hannover, die legal auf direktem Weg aus der Türkei in die Europäische Union einreisen durften. 16 Menschen kamen am Morgen mit einer Linienmaschine an. Sie werden mit einem Bus zunächst in das Erstaufnahmelager Friedland bei Göttingen gebracht, wie ein Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks sagte, der für den Transport verantwortlich ist. Am Mittag werden weitere 16 Flüchtlinge am Flughafen erwartet.

"Ich werde mich ins Meer werfen", sagt ein junger Migrant

Das soll aber nur der Anfang sein. Der im März vereinbarte Flüchtlingspakt mit der Europäischen Union hat zum Ziel, dass die Türkei alle seit dem 20. März in Griechenland angekommenen Migranten zurücknimmt. Für jeden Syrer darunter können die Türken auch einen syrischen Flüchtling in die EU schicken, zunächst bis zu einer Zahl von 72 000 - es gibt mal wieder eine Obergrenze.

Seit sich unter den Flüchtlingen auf den Inseln herumspricht, dass ihre Zeit in Europa nur von kurzer Dauer sein wird, geht dort die Angst um, wieder in die Türkei abgeschoben zu werden. In der Nacht zu Freitag kam es bereits auf der Insel Chios zu schweren Ausschreitungen im Auffanglager und auch in den frühen Morgenstunden des Montags - vor den ersten Abschiebungen - kam es zu Zusammenstößen zwischen Polizisten und örtlichen Bewohnern. Sie protestierten gegen die geplanten Abschiebungen.

In den vergangenen Tagen sind mehr als die Hälfte der Flüchtlinge aus der Anlage geflohen. 850 sammelten sich im Inselhafen und weigerten sich, zurückgebracht zu werden. "Ich werde mich ins Meer werfen", sagte ein junger Migrant dem griechischen Fernsehen. Viele protestierten gegen die geplanten Rückführungen, sie haben andere Ziele: "Athen, Athen" und "Freiheit, Freiheit", rufen sie. Gerade solche Bilder wollten die Behörden vermeiden. Auf Lesbos rüsten der griechische Staat und seine europäischen Helfer auf. Übers Wochenende verstärkte Frontex sein Personal auf der Insel. Zahlreiche Hotelzimmer seien kurzfristig reserviert worden, heißt es.

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Flüchtlinge, die von der Türkei aus nach Griechenland reisen, sollen wieder dorthin zurück gebracht werden. Dafür erhält das Land Geld von der EU. Außerdem hat sich die EU verpflichtet, für jeden Flüchtling, der in die Türkei abgeschoben wird, einen syrischen Flüchtling aufzunehmen. Wird die Abmachung Erfolg haben?

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Es wird schwierig genug, die Abschiebekandidaten in den kommenden Tagen aus der Menge der Flüchtlinge herauszuholen und für den Abtransport vorzubereiten. Der Hotspot Moria - vor dem Abkommen ein Registrierzentrum samt Notunterkunft, ist zur Abschiebe-Anstalt geworden.

Unter den ersten Kandidaten für die Abschiebung sollen vor allem Pakistaner sein, Afghanen und Marokkaner. Für Syrer und unbegleitete Minderjährige gibt es - so sah es bis zum Sonntag aus - wohl noch eine Art Schonfrist. Auch Migranten, die in Griechenland einen Asylantrag gestellt haben, sollen nicht unter der ersten Gruppe der Abgeschobenen sein, hieß es von Seiten der Küstenwache. Denn plötzlich wollen einige Flüchtlinge auch in Griechenland bleiben. Die meisten von ihnen hatten bisher darauf verzichtet, hier Asyl zu beantragen. Es hatte sich bis zu ihnen herumgesprochen, dass Griechenland selbst ein Krisenstaat ist, mit sich selbst beschäftigt. Doch seit ein paar Tagen steigt die Zahl der Asylanträge rasant - 2000 sollen es allein auf Lesbos derzeit sein. Jeder Antrag verspricht zumindest Aufschub - er muss geprüft werden, egal wie schlecht die Chancen stehen. In zwei Wochen wollen die Behörden entschieden haben.

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) haben Zweifel, dass das in so kurzer Zeit möglich ist. Überhaupt glaubt Boris Tscheschirkow, UNHCR-Vertreter auf Lesbos, dass das ganze Verfahren übereilt startet. Eigentlich ist niemand wirklich vorbereitet. Vor dem Start verfügt Frontex nicht einmal über die Hälfte der erforderlichen Polizisten. Die EU-Mitgliedstaaten haben nur einen Teil des angeforderten Personals entsandt. Das griechische Parlament hat im Eilverfahren am Freitag erst die nötigen Gesetze beschlossen.

Aber die Griechen wollen auch keine Zeit verlieren. 50 000 Flüchtlinge sind im Land, von denen Tausende schlecht oder gar nicht versorgt werden. Auf türkischer Seite stehen am Wochenende noch nicht einmal die Empfangszentren, wenn man sie denn so nennen will. In der Hafenstadt Çeşme soll ein solches Camp entstehen. Betonpfeiler wurden aufgestellt - als Erstes werden wieder Zäune errichtet.

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Willkommen sind die Flüchtlinge in der Türkei nicht. In der Hafenstadt Dikili sind am Wochenende die ersten Bewohner auf die Straße gegangen. Unter dem Namen "Mein Dikili" haben sich Bürger und örtliche Initiativen zusammengeschlossen. Der Bürgermeister der Stadt nannte es "untragbar", weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Die Plätze in Schulen und Krankenhäuser reichten nur für die eigene Bevölkerung.

Die Türkei hat nach eigenen Angaben schon knapp drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Bis jetzt geschah das weitgehend ohne öffentliche Proteste - die kommenden Wochen werden zeigen, ob die Stimmung kippt. Die Politik der offenen Grenze zu Syrien hat die türkische Regierung aufgegeben. Zehntausende Flüchtlinge werden jetzt nur noch jenseits der Grenze versorgt. Vergangene Woche meldete Amnesty International, dass die Türken Syrer systematisch ins Bürgerkriegsland abschieben würden. Die Regierung bestreitet das. Nun läuft der Flüchtlingsdeal an, ohne dass solche Anschuldigungen aufgeklärt wurden.

© SZ vom 04.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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