Krieg und Vertreibung:Die Kraft der Kinderbilder ist enorm

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Das Foto eines toten syrischen Jungen am Strand von Bodrum erschüttert die Welt. Historische Beispiele, wie solche Bilder den Lauf der Geschichte verändern, gibt es viele.

Von Andrian Kreye

Kinderbilder können im Lauf der Geschichte die Wirkung jenes sprichwörtlichen Flügelschlags eines Schmetterlings im brasilianischen Urwald entfalten, der weit weg in Texas einen Sturm auslöst. In diesen Tagen ist wieder so ein Bild im Umlauf. Es zeigt den Leichnam des dreijährigen Aylan Kurdi am Strand des türkischen Ferienorts Bodrum. Die kurdische Familie des Jungen stammt aus dem syrischen Kobanê, sie war auf der Flucht vor der Terrormiliz IS zur griechischen Insel Kos, um sich von dort zur Tante des Jungen in Kanada durchzuschlagen.

Man muss den Effekt dieses Bildes nicht lange erklären. Der Kinderschutzinstinkt ist für jede Spezies dieses Planeten einer der wichtigsten Überlebensmechanismen. Man muss nicht einmal selbst Kinder haben, um erschüttert zu sein. Dazu kommt der Moment der Veröffentlichung. In diesen Tagen kehrt ein großer Teil der Europäer von genau solchen Stränden aus dem Urlaub zurück. Gleichzeitig erreichen Tausende Flüchtlinge in Europa einen ersten sicheren Ort.

Historische Beispiele, wie solche Kinderbilder den Lauf der Geschichte verändern, gibt es viele. Die meisten brennen sich beim ersten Betrachten auf ewig ins Gedächtnis ein. Da ist zum Beispiel das Foto des Jungen bei der Räumung des Warschauer Ghettos 1943. Er geht etwas abseits von einer Gruppe Menschen, die die Hände erheben. Auch der Junge hebt die Hände. Ein SS-Mann hat seine Maschinenpistole auf ihn gerichtet. Das Bild stammt aus dem Bericht "Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!", den die SS für Heinrich Himmler verfasste. Bis heute prägt es das Bild vom grausamen Nazi-Deutschland.

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Fast 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Die meisten gehen aber nicht ins Ausland - und wenn, dann nur in wenige Länder.

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Ein Foto kann Kriege beenden - oder anfachen

Ein anderes Bild half dagegen, den Vietnamkrieg zu beenden. Das ist Nick Úts Aufnahme des damals neunjährigen Mädchens Phan Thiị Kim Phúc, das 1972 auf einer Landstraße weinend, nackt und von Napalm verbrannt vor einem Luftangriff der Südvietnamesen auf das Dorf Trang Bàng davonläuft.

Es gibt auch ein legendäres Flüchtlingsfoto, das der Weltöffentlichkeit ein Gesicht für einen Krieg lieferte. Das ist das Porträt, das Steve McCurry 1984 in einem pakistanischen Flüchtlingslager von dem zwölfjährigen afghanischen Mädchen Sharbat Gula machte. Ihr starrer Blick in die Kamera erinnert ganz deutlich an die Bilder traumatisierter Soldaten aus Kriegen zuvor.

Nun ist die Versuchung groß, solche Bilder früh zu historisieren. Die Bemühungen, aus dem toten Jungen aus Kobanê eine Ikone der Flüchtlingskrise zu machen, sind nicht verwerflich - auch wenn der Schmetterlingseffekt solcher emotionalen Bilder schwer steuerbar ist. Da ist das Bild der Afghanin Sharbat Gula ein deutliches Beispiel, denn letztlich führt es direkt an den Strand von Bodrum.

Steve McCurrys Bild half damals in Amerika, das Bewusstsein für die Grausamkeit der sowjetischen Invasion in Afghanistan zu schärfen. Präsident Jimmy Carter hatte schon den Widerstand islamischer Rebellen gefestigt. Sein Nachfolger Ronald Reagan unterstützte dann über die CIA die Mudschahedin mit allen Mitteln. Das half den Afghanen, die Sowjets zu vertreiben. Für die USA mag das nur ein Stellvertreterkrieg gewesen sein, für die Afghanen war es zunächst ein Segen.

1984 war allerdings auch das Jahr, in dem Osama bin Laden im pakistanischen Peshawar sein Gasthaus eröffnete, über das er arabische Rekruten zu den Mudschahedin an die afghanische Front schleuste. Siebzehn Jahre später orchestrierte er die Anschläge des 11. September auf New York und Washington. Die wiederum zogen die Kriege in Afghanistan und im Irak nach sich.

Rechtspopulistische Hetze ist unmöglich

Gegen die amerikanische Unterstützung der Schiiten im eroberten Irak formierte sich wiederum ein sunnitischer Widerstand, aus dem der Islamische Staat hervorging. Der belagerte im vergangenen Jahr die Stadt Kobanê, die er auch vorübergehend besetzte. Aus dieser Stadt floh die Familie des Jungen. Beide Kinder und die Mutter ertranken bei der Überfahrt nach Kos. Der Vater will nun nach Kobanê zurückkehren, um sie dort zu begraben.

Sicher war Steve McCurrys Bild vom afghanischen Mädchen nicht der alleinige Auslöser dieser Kette historischer Ereignisse. Es spielte aber durchaus eine Rolle. Die Kraft solcher Kinderbilder ist enorm. Entziehen kann man sich kaum. Dazu müsste man seinen Computer einige Wochen abschalten. Eines aber machen solche Bilder unmöglich - bequemes Verdrängen und rechtspopulistische Hetze.

Die Süddeutsche Zeitung hat das Bild des toten Jungen nicht gezeigt. Das mag ihr, wie in einem früheren Fall, den Vorwurf der Feigheit vor Emotionen einbringen. Andere nennen es Respekt.

© SZ vom 04.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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