Europa:Das europäische Monster gibt es nicht

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Bundeskanzlerin Angela Merkel beim EU-Gipfel in Brüssel: Sie wird als Retterin des liberalen Westens stilisiert. (Foto: AP)

Die EU befindet sich in einer tiefen Krise. Ausgerechnet Deutschland ist Retter und Problem zugleich. Dagegen helfen nur Pragmatismus und Nüchternheit.

Kommentar von Stefan Kornelius

Seitdem es die Europäische Union gibt, gibt es die europäische Angst: die Angst vor der Krise, dem Zerfall, dem allesfressenden Moloch. Wer dieses Europa nicht mag, der zieht Profit aus dieser Angst und der Tatsache, dass Europa für viele seiner Bewohner irgendwie abstrakt bleibt. Man hätte gerne ein Gefühl, eine emotionale Bindung, so wie sie in dem sehr deutschen Begriff "Heimat" steckt. Aber das Gefühl mag sich nicht einstellen.

Europa-Enthusiasten begegnen diesem Defizit gerne mit der Erzählung von den Schlagbäumen, den Pässen und dem gemeinsamen Geld. "Die Jugend" dient als Kronzeuge für ein idealisiertes Europa, obwohl die älteren Kohorten dieser in Europa sozialisierten Jugend inzwischen auch schon jenseits ihrer Lebensmitte angekommen sind (und man gerne vergisst, dass Erasmus-Studenten nur den Bruchteil einer Generation ausmachen).

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Diese Verknappung auf ein Lebensgefühl ist eine Gefahr, die glücklicherweise spätestens immer dann erkannt wurde, wenn die Problemlast für Europa zu groß wurde. Dieser Augenblick ist nun wieder gekommen. Die inneren und äußeren Probleme für das politische Gebilde Europa sind derart gewaltig, dass wohltuende Nüchternheit und Konzentration eingesetzt haben, zumindest bei all jenen, die überzeugt sind von der historischen Bedeutung dieses einzigartigen Staatenkonglomerats.

Gefahren für die EU: Austritte und Populisten

Die existenzielle Not der EU ist keine Erfindung. Zwei Ereignisse des vergangenen Jahres stehen symptomatisch für die Dramatik, zwei Ereignisse in diesem Jahr könnten die Dynamik beschleunigen. Der britische Austrittswunsch aus der EU kehrt die Logik des "immer tiefer" und "immer mehr" in Europa erstmals radikal ins Gegenteil. Und der Europa-Verächter Donald Trump hat mit seiner nihilistischen Sicht auf die Gemeinschaft nicht nur ein geopolitisches Problem zwischen der Union und ihrem wichtigsten Verbündeten geschaffen, sondern er dient auch als Souffleur und Vorbild für die breite Bewegung von Populisten und Nationalisten, die Europa von innen heraus zerfressen.

Diese Dynamik kann 2018 an Kraft gewinnen, wenn der - unwahrscheinliche - Fall eintritt, dass in den Niederlanden oder vor allem in Frankreich die EU-Zerstörer Wilders und Le Pen die Geschicke lenken sollten.

Je hysterischer die Stimmung in Europa ist, je kräftiger die Krisenfeuer lodern, desto mehr konzentrieren sich die Hoffnungen auf eine Nation, die ihrerseits nicht gerade für überbordenden politischen Optimismus bekannt ist: Deutschland. Seit Beginn der Staatsschuldenkrise 2008 erlebt die Bundesrepublik einen Bedeutungszuwachs, der im deutlichen Gegensatz zu ihren eigenen Ambitionen steht. Niemand hat um die Probleme gebeten, eine Mehrheit sieht sich in diesem Kontinentenchaos überfordert, und dennoch steigen die Erwartungen.

Merkel, Retterin des liberalen Westens

Angela Merkel, die am Dienstag den amerikanischen Präsidenten trifft, wird als Retterin des liberalen Westens stilisiert. Deutschlands politisches, ökonomisches und kulturelles Vorbild entwickelt eine magnetische Wirkung. Die politische Stabilität des Landes wird beneidet. Selbst die Attraktivität der Provinz, die Kraft des Föderalismus hinterlassen Eindruck in Europas vergessenen Hinterhöfen, wo die Wut auf nationale Eliten in ihren Hauptstadtpalästen wächst. So cool war das Land also selten. Das sollte misstrauisch machen.

Tatsächlich ist diese Deutschland-Fixierung auch eine Last. Weil Deutschland so stark und sein politisches Modell so beneidenswert stabil ist, wird das Land zum bevorzugten Ziel für alle möglichen Projektionen. Der türkische Präsident und seine Kabinetts-Hintersassen wittern Verschwörung aus Deutschland. Die polnische Mär vom Berliner "Diktat" folgt derselben Denke wie der Vorwurf aus den USA, Berlin betreibe eine Währungspolitik zu eigenen Gunsten. Germanophobie ist die hässliche Fratze dieses janusköpfigen Deutschlands, ob sie nun in Budapest oder traditionell in Wien gepflegt wird, in Athen oder - demnächst mit großer Garantie - in London zur Begleitung der Brexit-Verhandlungen.

Europäischer Machtausgleich

Der Albtraum ist Deutschland nicht unbekannt - zu groß, zu sperrig, zu unnahbar zu sein für das gemeinsame Europa. In geradezu grotesker Verdrehung nutzen Populisten und Isolationisten überall auf dem Kontinent ein für überwunden geglaubtes Deutschland-Bild, um das Rad der Geschichte zurückzudrehen und einen Hegemon wieder auferstehen zu lassen, der doch seine Stabilität und seinen Wohlstand dem EU-System des Machtausgleichs verdankt.

Die gute Botschaft ist indes, dass dieses Spiel wohl nur bedingt verfängt - und dass eine verantwortungsbewusste Mehrheit des politischen Personals dagegen angeht. Die meisten Staaten haben verstanden, dass mehr Integration und Machtverlagerung zugunsten Brüssels momentan nicht gehen. Die Vereinigten Staaten von Europa - das ist zu einer eher beängstigenden Vorstellung geworden. Und nichts wünscht sich die Bundesregierung sehnlicher als eine starke und reformfreudige französische Regierung, die unabdingbar ist für den europäischen Machtausgleich.

Interessenskonflikte programmiert

Europa braucht Pragmatismus und eine Dosis Nüchternheit. Dazu gehört das Eingeständnis vor allem der EU-Enthusiasten in Deutschland, dass ihr Bild einer immer enger vernetzten und regulierten Gemeinschaft von der großen Mehrheit der Europäer nicht geteilt und gewünscht wird. Dazu gehört aber auch die Aufforderung an die EU-Kritiker, ehrlich zu bleiben.

Das europäische Monster, das die Populisten so gerne bemühen, gibt es überhaupt nicht. Der Interessensausgleich zwischen 28 Nationen ist per se eine schwierige Angelegenheit, bei der es raucht und stinkt. Aber jede Alternative ist schlechter. Und wer sich wie Großbritannien der Komplexität einer solchen Gemeinschaft verweigert und eine einfache Lösung bevorzugt, der befriedigt vielleicht kurzfristig die Volksseele, wird es aber anschließend auch nicht mit einer simplen Welt zu tun haben.

Zugegeben: Pragmatismus und Nüchternheit sind schlecht für das Europa-Gefühl. Für den Verstand aber sind sie gut.

© SZ vom 11.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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