Documenta:Wo Politik wenig zu bieten hat

Lesezeit: 3 min

Documenta 14 in Kassel: Die Installation "The Parthenon of Books" der Künstlerin Marta Minujin. (Foto: Getty Images)

Die 14. Documenta ist ein Aufruf wider die Apathie der Politik. Ein Appell gegen den Fatalismus - und damit gegen eine Haltung, die sich mit elenden Gegebenheiten abfindet.

Kommentar von Heribert Prantl

Was hat das Kassel-Sprichwort mit der soeben eröffneten Kunstausstellung zu tun? Erst einmal gar nichts. Die Documenta in Kassel, weltweit bedeutendste Großveranstaltung für zeitgenössische Kunst, gibt es seit 1955; der Slogan, der "ab nach Kassel" kommandiert, stammt aus dem Jahr 1870. Bei Sedan wurde im Krieg zwischen Deutschland und Frankreich Kaiser Napoleon III. gefangen genommen und auf Schloss Wilhelmshöhe bei Kassel verbracht: Ab nach Kassel! Es war ein nationales Triumphwort.

Von dieser Geschichte europäischer Wirrnisse weiß Olu Oguibe, der aus Nigeria stammende US-Künstler, wohl nichts. Und einen Fremdling der kaiserlichen Art hatte er bei seiner Aktion auch nicht im Sinn; er dachte an die 60 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind. Der Obelisk, den er für die 14. Documenta auf dem Königsplatz in Kassel aufgestellt hat, trägt daher in Deutsch, Türkisch, Englisch und Arabisch die Aufschrift: "Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt". Dieser Satz steht im Matthäus-Evangelium, an dessen Ende der göttliche Richter sagt: "Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." Es ist kein Zufall, dass sich Kunst auf die Klarheit dieser christlichen Botschaft bezieht. Politik hat bei der Lösung der gewaltigen Flüchtlingsprobleme wenig Konstruktives zu bieten; im Gegenteil: rechtspopulistisch-extremistische Bewegungen in ganz Europa waren und sind erfolgreich mit der Verweigerung von Schutz, mit Ausschaffung und Hetze; ihr Extremismus wird gespeist von nationalen Egomanien und Ressentiments gegen Liberalität.

Eine Gesellschaft, die nicht Wandel ist, ist keine Gesellschaft

Kunst ist offen, sie ist offen für andere und anderes, Kunst ist das andere. Sie kastelt sich nicht ein, schützt sich nicht mit Stacheldraht, schottet sich nicht ab, kocht nicht im eigenen Saft. Kunst probiert aus, hat nicht bei jedem Schritt Angst vor dem Scheitern. Für Kunst gibt es keine Obergrenzen; Kunst schwadroniert nicht herum; auch das beliebte Reden von der "Gesellschaft im Wandel" gehört zu den Schwadronier- und Schwafelwörtern. Gesellschaft und Wandel, das sind Synonyme. Eine Gesellschaft, die nicht Wandel ist, ist keine Gesellschaft, jedenfalls keine humane. Und Kunst gehört zu den Dingen, die Gesellschaft human und lebendig machen. Die 14. Documenta in Kassel ist daher das künstlerische Echo der großen Erschütterungen der Gegenwart; sie handelt von Gewalt, Flucht, Vertreibung und deren Ursachen, von Kriegen und Umweltzerstörung.

Documenta 14 eröffnet in Kassel
:Das sind die Highlights der Documenta 14

Ein Tempel aus Büchern, singende Mönche und ein rekonstruiertes NSU-Verbrechen - an diesen zehn Werken führt beim größten Kunstereignis der Gegenwart kein Weg vorbei.

Von Catrin Lorch

Die Documenta ist zugleich ein Aufruf wider die Apathie, ein Appell gegen den Fatalismus, gegen eine Haltung also, die sich mit elenden Gegebenheiten abfindet. Gibt es wirklich keine Alternative zur Abriegelung Europas, notfalls mit militärischen Mitteln? Gibt es, zur Abwendung des IS-Terrorismus, wirklich keine Alternative zu Ausnahmezustand und zur Apotheose der inneren Sicherheit? Und gibt es keine Alternative zu einem aggressiven Kapitalismus, der Arbeitslosigkeit und soziale Unsicherheit produziert?

Der Philosoph Walter Benjamin hat gesagt: "Dass es 'so weiter' geht, ist die Katastrophe." Die Documenta ist ein Protest dagegen, dass es so weitergeht. Das alte Wort "ab nach Kassel" erhält so eine neue Bedeutung, nämlich: Es gibt keine Zukunft, von der man sagen könnte, dass sie einfach so auf uns kommt. Zukunft ist nichts Feststehendes, nichts Festgefügtes. Es gibt nur eine Zukunft, die sich jeden Augenblick formt - je nachdem, welche Entscheidungen die Menschen treffen, welche Richtung die Gesellschaft einschlägt.

Europa ringt um die Zukunft

"Ab nach Kassel" heißt im Jahr 2017: Finde dich nicht einfach ab mit dem, was passiert, lass es nicht laufen. Das ist ein Aktivierungs-Motto, das zu den Wahlen in Frankreich und in Großbritannien passt: In Großbritannien hat Jeremy Corbyn mit seiner Realvision einer gerechteren Politik "for the many, not the few" vor allem junge Menschen begeistert. In Frankreich hat Emmanuel Macron, in Österreich Alexander Van der Bellen mit dem Bekenntnis zur europäischen Zukunft die Wahl gewonnen. Diese Wahlen, auch Bewegungen wie "Pulse of Europe", nähren die Hoffnung, dass sich die Generation Erasmus ihre Zukunft in Europa nicht kaputt machen lässt. Sie hat Europa auch im Wortsinn "er-fahren"; sie würde am meisten darunter leiden, wenn sich Europa wieder selbst zerstückelt.

"Ab nach Kassel" - in eine Welt also, die für Weltoffenheit steht und Visionen hat? Im deutschen Wahlkampf ist von diesem Motto wenig zu spüren; er ähnelt 2017 dem von 1957: "Keine Experimente". Und in Polen und Ungarn sucht die Gesellschaft ihr Heil darin, ganz weit weg zu sein von Kassel. Europa ringt um die Zukunft. Ab nach Kassel oder weg davon?

© SZ vom 12.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: