EU-Kommissionspräsident Juncker:Altmeister wagt echten Neustart

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Das Europaparlament hat er für sich gewonnen, jetzt muss Jean-Claude Juncker auch die skeptischen Bürger mit der EU versöhnen. (Foto: Frederick Florin/AFP)

Erstmals in der Geschichte haben die Wähler den EU-Kommissionspräsidenten bestimmt. Alles gut also? Nein. Jean-Claude Juncker branden konträre Erwartungen entgegen. Scheitert der Luxemburger, dürfte das demokratische Experiment rasch beerdigt sein.

Ein Kommentar von Stefan Ulrich

Diesmal ist es anders - so lautete das Motto des Europaparlaments für die Wahl 2014. Es enthielt ein Versprechen. Dieses Mal würde es sich lohnen, zur Urne zu gehen. Diesmal würden die Stimmen der Bürger Gewicht bekommen. Denn nun würde die Wahl des Parlaments zugleich über den mächtigen EU-Kommissionspräsidenten entscheiden, den Behüter der ganzen Union.

Am Dienstag mögen sich viele Abgeordnete gratuliert haben: Versprechen erfüllt. Das, was die Staats- und Regierungschefs lange nicht glauben wollten, ist eingetreten. Erstmals in der EU-Geschichte haben nicht mehr sie selbst den Kommissionspräsidenten bestimmt, sondern die Wähler. Die Bürger machten die Europäische Volkspartei zur stärksten Kraft im Parlament; deren Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker wurde nun von diesem Parlament zum Chef der Kommission gewählt. Alles gut in der EU also? Nein. Falls Juncker in den kommenden fünf Jahren scheitert, dürfte das demokratische Experiment rasch beerdigt sein.

Junckers Aufgaben sind so groß wie seine Aussichten zu scheitern

Die Aussichten zu scheitern, sind dabei so groß wie die Aufgaben, die auf den 59 Jahre alten Europa-Veteranen zukommen. Dem Luxemburger branden konträre Erwartungen entgegen. Den Sparkurs soll er fortsetzen oder lockern; die Kompetenzen der EU ausbauen oder abgeben; Europa wirtschaftsfreundlicher oder sozialer machen; die Briten einbinden oder loswerden; aufs Parlament zugehen oder dem Rat der Staats- und Regierungschefs folgen. Armer Juncker.

Der Luxemburger kann es nicht allen Recht machen und soll dennoch alle an Bord behalten. Das geht nur mit Erfolgen. Der künftige Kommissionschef will sich daher zuallererst um Wirtschaft, Wachstum und Arbeitsplätze kümmern. Er möchte Europa wettbewerbsfähiger machen und das Geld der EU besser ausgeben, auch um private Investoren anzuspornen. Das klingt gut, aber vage. Juncker wird bald Ergebnisse liefern müssen.

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:Junckers selbstbewusste Verbeugung

Er will vielen gefallen, aber es nicht allen recht machen. Jean-Claude Juncker schmeichelt vor seiner Wahl zum Kommissionspräsidenten dem Parlament. Zugleich betont er seinen Machtanspruch. Der erste Gratulant ist ausgerechnet AfD-Chef Bernd Lucke.

Von Daniel Brössler

Daneben hat der Christdemokrat auf die Stabilität des Euro und der Krisenländer zu achten. In Portugal wackelt schon wieder eine Bank. Italien ächzt unter seiner noch längst nicht vollzogenen Sanierung. Frankreich überlegt immer noch, wie es unangenehmen Reformen à la Schröder-Agenda entgehen kann. Die Katastrophe im Euro-Raum ist aufgeschoben, aber noch nicht abgewendet. Juncker wird nie aufhören dürfen zu mahnen, zu warnen und zu drohen. Er muss die Südeuropäer überzeugen, dass sich jeder eingesparte Euro lohnt - und die Nordeuropäer, dass jeder Euro an Solidarität gut ausgeben ist. Gerade die Deutschen sollten sich darauf einstellen, dass ihnen (noch) mehr für Europa abverlangt wird.

Juncker hat sich in seinem Regierungsprogramm als Anhänger der sozialen Marktwirtschaft bezeichnet und klargestellt, die Wirtschaft müsse den Menschen dienen, nicht umgekehrt. Genau darum geht es den meisten Europäern. Der friedliche, faire Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit, die Beteiligung aller am Erfolg und eine menschenwürdige Grundsicherung für alle Bürger gehören zu den großen Leistungen Europas. Sie sind in einer Welt maximalen Wettbewerbs und brutaler Profitgier bedroht. Gelingt es Juncker, sie zu verteidigen, lässt sich der Vormarsch nationalistischer, anti-europäischer Gruppen stoppen.

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Nach wochenlanger Diskussion und gegen den erbitterten Widerstand der Briten: Die EU-Parlamentarier wählen den langjährigen Europapolitiker Jean-Claude Juncker zum Chef der EU-Kommission. Der Luxemburger hatte zuvor Reformwillen und ein Programm gegen Arbeitslosigkeit versprochen.

Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten, Energie-Union, Klimaschutz, Einwanderung und eine europäische Außenpolitik, die diesen Namen endlich verdient - das sind weitere Reizthemen, die auf Juncker zukommen. Er kann nur reüssieren, wenn er Autorität und Kompetenzen der Europäischen Union stärkt. Zugleich erwarten nicht nur die Briten, dass Brüssel auch einmal etwas Macht zurückgibt an die Staaten und Regionen. Viele empfinden die EU als Regulierungskraken. Juncker kann nun beweisen, dass dem nicht so ist.

Es wäre zu viel verlangt, von dem polyglotten Luxemburger zu erwarten, die Bürger von Europa zu begeistern. Es reicht, wenn er sie mit der EU versöhnt. Seine Erfahrung, sein Verhandlungsgeschick und seine nüchterne Europaliebe werden ihm dabei helfen.

Juncker ist kein Herkules

Doch Juncker ist wirklich kein Herkules. Er wird die Unterstützung des Parlaments, vor allem aber des Rats brauchen, um die Europäer vom Nutzen ihrer Union zu überzeugen. Die Staats- und Regierungschefs etwa müssen Juncker fähige Kommissare zur Seite stellen und bei der Auswahl des übrigen EU-Spitzenpersonals an diesem Mittwoch mehr auf Kompetenz als auf Proporz achten.

Juncker ist, wie seine Kritiker bemängeln, kein neuer Mann. Immerhin hat er Europa einen Neustart versprochen. Das taten schon vor ihm allzu viele allzu beliebig. Doch vielleicht ist es diesmal anders.

© SZ vom 16.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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