ESM-Urteil des Bundesverfassungsgerichts:Karlsruhe befreit das Parlament aus der Rolle des Bettlers

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Die Parlamente sind nicht die Bettler unter dem europäischen Tisch, die darauf warten müssen, welche Krümel herunterfallen. In diese Rolle drängt sie die EU-Krisenpolitik. Das Verfassungsgericht erklärt Merkel nun, dass repräsentative Demokratie nicht darin besteht, dass sie allein Repräsentantin ist. Mit einer fulminanten Entscheidung holt es die Parlamente wieder an den Tisch - dorthin, wo sie in einer Demokratie hingehören. Denn Politik lebt vom Vertrauen der Menschen, nicht vom Vertrauen der Märkte.

Heribert Prantl

Auf dem Weg nach Europa leidet die Demokratie; sie leidet so wie der Euro: Jede Aktion, die die Währung kräftigen soll, entkräftet die Parlamente. Am Europäischen Parlament gehen die Rettungsmaßnahmen komplett vorbei; die europäischen Volksvertreter sind nur Zuschauer.

Den nationalen Parlamenten geht es wenig besser; die dortigen Volksvertreter dürfen immerhin genehmigen, was ihre Regierungen beschlossen haben. Der Deutsche Bundestag darf jeweils "passt schon" sagen zu dem, was eigentlich nicht passt: zur Entparlamentarisierung der Politik, die im Lauf der Euro-Krise vom schleichenden ins galoppierende Stadium übergegangen ist.

In Deutschland stellt sich das Bundesverfassungsgericht dieser Tendenz zur Entparlamentarisierung entgegen. Immer und immer wieder mahnen und warnen die höchsten Richter, dass aus Europa keine antiparlamentarische Veranstaltung werden darf. Sie versuchen, Entscheidung für Entscheidung, das Parlament wieder in seine Rechte einzusetzen. Soeben haben sie es wieder getan, einstimmig und besonders eindringlich.

Die Verfassungsrichter erklären der Kanzlerin, dass die repräsentative Demokratie nicht darin besteht, dass sie allein die Repräsentantin ist. Sie erklären der Bundesregierung, dass der Bundestag weder Störer noch Zuschauer bei der Politik ist, sondern ihr Mitgestalter - dass der Bundestag deshalb über europäische Pakte, Verträge, Aktionen und Maßnahmen rechtzeitig und umfassend informiert werden muss. Karlsruhe proklamiert so etwas wie ein Grundrecht des Parlaments auf umfassende Kommunikation in allen europäischen Angelegenheiten.

Demokratie ist keine exklusive Veranstaltung

Die Parlamente sind nicht die Bettler unter dem europäischen Tisch, die darauf warten müssen, welche Krümel vom Tisch des Rates herunterfallen. In diese Rolle drängt sie die europäische Politik, diese Rolle weist die Merkel-Politik den Bundestagsabgeordneten zu. Das Bundesverfassungsgericht setzt sie wieder an den Tisch - dorthin, wo sie in einer Demokratie hingehören.

Demokratie ist keine exklusive Veranstaltung. Wenn in europäischen Angelegenheiten die Volksvertreter ausgeschlossen werden, muss man sich nicht wundern, wenn das Volk erst murrt und dann rebelliert. Es geht um das Vertrauen in den demokratischen Prozess: Die Wertschöpfungsanlage für dieses Vertrauen ist das Parlament.

Vor einem knappen Jahr, bei der Entscheidung zum Euro-Stabilisierungsmechanismus, haben die Richter - wie schon früher in den Urteilen zu den Verträgen von Maastricht und Lissabon - gefordert, dass dem Deutschen Bundestag "Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben" müssen. Man könnte, ob der Vielzahl der einschlägigen Urteile, das Gefühl haben, dass es sich um vergebliche Liebesmüh handelt.

Die Regierung hat mit dem Rettungsschirm die Bundestagsrechte verletzt - so entschied es der Zweite Senat beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe: die Richter (v.l.) Sibylle Kessal-Wulf, Monika Hermanns, Michael Gerhardt, Peter Huber, Andreas Voßkuhle (Vorsitz), Gertrude Lübbe-Wolff, Herbert Landau und Peter Müller bei der Urteilsverkündung. (Foto: dpa)

Ganz so ist es nicht: Beim Fiskalpakt, um den derzeit im Bundestag gerungen wird, hat die Regierung, eingedenk der andauernden Mahnungen des Bundesverfassungsgerichts, die parlamentarischen Beteiligungsrechte, die die Richter jetzt wieder einfordern, schon beachtet.

Erstens: Keine Zeit, keine Zeit. Zweitens: Noch schneller noch mehr Milliarden ausgeben. Drittens: Keine Rücksichten nehmen auf Parlamente, die Märkte sind wichtiger. Viertens: Die alten demokratischen Regeln sind untauglich für das neue Europa. Nach diesen Geboten ist nun gut zwei Jahre EU-Krisen- und Euro-Rettungspolitik betrieben worden.

Ein Urteil, das ein dramatischer Appell ist

Es war keine gute Politik. Erfolg hatte sie auch nicht. Sie hat sich viel um das Vertrauen der Märkte, aber wenig um das Vertrauen der Menschen gekümmert.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu ESM und zum Euro-Plus-Pakt ist ein eindringlicher, dramatischer und richtiger Appell: Demokratie ist keine Veranstaltung nur für gute Zeiten. Sie muss sich auch in Krisenzeiten bewähren. Wer die Parlamente - zur angeblichen Bewältigung von Krisen - umgeht oder abschaltet, der verstärkt die Krise, die er bewältigen will.

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