Erster Weltkrieg:Hinrichtung einer Krankenschwester

Lesezeit: 4 min

"Sie hatte praktisch keinen Humor": Edith Cavell auf einer Aufnahme um 1905. (Foto: Getty Images)

Die Erschießung von Edith Cavell am 12. Oktober 1915 war für die britische Propaganda der Beweis, dass die Deutschen Barbaren seien.

Von Esther Widmann

In den frühen Morgenstunden des 12. Oktober 1915 wird eine sehr blasse, sehr dünne Frau von deutschen Soldaten an einen Schießstand nahe Brüssel geführt. Der Schriftsteller Gottfried Benn ist als Arzt der Besatzungsmacht dabei und schreibt: "Sie schreitet ohne Zaudern, ohne Stocken geht sie abwärts, wo die Pfähle stehen. Sie spricht leise mit dem Pfarrer, was hat sie ihm gesagt, er hat es mir später erzählt: Sie stirbt gern für England und läßt Mutter und Bruder grüßen, die in der britischen Armee im Felde stehen." Sie wird an den Pfahl gebunden. Das Todesurteil wird verlesen. Das Erschießungskommando richtet seine Gewehre auf die Frau. Und schießt.

Die sehr blasse, sehr dünne Frau ist die Britin Edith Cavell, 49 Jahre alt, Krankenschwester und in Fachkreisen angesehene Ausbilderin für diesen Beruf. Warum erschießen die Deutschen eine Krankenschwester?

Edith Cavell, geboren am 4. Dezember 1865 in Norfolk, arbeitete zunächst als Gouvernante in Belgien, bevor sie in London eine Ausbildung zur Krankenschwester machte. Der Gründer des Belgischen Roten Kreuzes, Antoine Depage, holte sie 1907 als Oberin an seine neu gegründete Schwesternschule. Die Verbesserung der Pflege lag Cavell am Herzen: Um 1910 herum gründete sie eine Zeitschrift für Pflegekunde und schulte Personal an drei Krankenhäusern, 13 Kindergärten und zwei Dutzend Schulen in Belgien.

Eine Zeitzeugin erzählte einmal, wie es war, unter Cavell als Krankenschwester zu arbeiten: "Sie war sehr würdevoll. Aber sie hatte praktisch keinen Sinn für Humor."

Zur Pflege kommen bald geheime Aufgaben hinzu

Cavell hatte dafür andere Prinzipien. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs war sie in England, doch sie ging freiwillig zurück ins von Deutschland besetzte Belgien. Ihre Schwesternschule in Brüssel wurde in ein Krankenhaus des Roten Kreuzes umgewandelt. Edith Cavell pflegte dort verwundete Soldaten, ohne sich um deren Nationalität zu kümmern. Ihr Leitspruch, den sie auch an die anderen Schwestern weitergab, war: "Jeder Mann war ein Vater, ein Ehemann, ein Sohn: Das Metier der Krankenpflege kennt keine Landesgrenzen."

Erster Weltkrieg
:Wahnsinn Westfront

Bald nach Kriegsbeginn 1914 erstarrte die Westfront. Von der Kanalküste bis zur Schweizer Grenze gruben sich die Deutschen ein, ebenso Franzosen, Briten und deren Verbündete auf der anderen Seite. Was folgte, war ein Novum: Der Einsatz von Giftgas, Panzern und Artillerie tötete Hunderttausende.

Doch schon bald war es mit der Pflege nicht mehr getan. In November 1914 kamen zwei verletzte britische Soldaten, die aus der Kriegsgefangenschaft geflohen waren, in Brüssel zu ihr. Wie diesen ersten beiden half sie in den folgenden Monaten vielen weiteren Männern: Edith Cavell wurde Mitglied einer Gruppe von Zivilisten, die britischen, französischen und belgischen Soldaten die Flucht über die Grenze in die neutralen Niederlande ermöglichte. Zwischen November 1914 und August 1915 versorgte sie 200 Männer mit Essen, Kleidung, Papieren und Führern, die sie auf dem Weg begleiteten.

Die Besatzer schöpften jedoch bald Verdacht, die Hinweise verdichteten sich, und im August 1915 schlugen sie zu: Edith Cavell und mehrere andere Mitglieder des Netzwerkes wurden verhaftet. Im Verhör gestand Cavell, Soldaten außer Landes gebracht zu haben. Alle diplomatischen Interventionen nützten nichts. Sie wurde angeklagt, "dem Feind Soldaten zugeführt zu haben". Nach deutschem Militärrecht stand darauf der Tod. Nach einem zweitägigen Prozess vor dem Kriegsgericht wurde Edith Cavell wegen Hochverrats verurteilt und fünf Tage später hingerichtet. Ein Pfarrer, der sie in ihren letzten Stunden begleiten durfte, zitierte sie mit den Worten: "Patriotismus ist nicht genug. Ich darf keinen Hass und keine Bitterkeit für irgendjemanden haben."

Das Propagandabüro der Briten zögerte nicht, die Erschießung Edith Cavells durch den Feind für seine Zwecke auszuschlachten. Vier Monate vor ihrer Hinrichtung hatten die Deutschen das britische Passagierschiff RMS Lusitania versenkt; 1200 Zivilisten starben. (Unter den Toten war auch Marie Depage, die zusammen mit ihrem Mann die Schwesternschule in Brüssel gegründet hatte, an der Cavell arbeitete.) Die Torpedierung des Schiffes gab den Briten bereits viel Stoff für antideutsche Propaganda. Nun kam mit der Hinrichtung von Edith Cavell ein Gesicht dazu.

Staatsbegräbnis und Denkmäler

Der Sherlock Holmes-Erfinder Arthur Conan Doyle nannte Cavell ein "großartiges und glorreiches Exemplar von Frau", der Mord an ihr sei ekelerregend. Zeitungsartikel und Briefmarken machten sie zu einer Märtyrerin und einer Ikone, deren Bild bei Rekrutierungsveranstaltungen für den damals noch freiwilligen Wehrdienst gezeigt wurde. Welchen Anteil dies an den kurzzeitig stark steigenden Rekrutierungszahlen hatte, ist aber angesichts der starken Schwankungen unklar. Das Gerücht, Cavell habe für den Geheimdienst spioniert, versuchte die Propaganda jedenfalls immer wieder zu zerstreuen: Das hätte das Bild der unschuldig ermordeten Krankenschwester zerstört.

Schützengrabenregeln im Ersten Weltkrieg
:"Der Rum wird von einem Offizier ausgegeben"

Wann es Schnaps gibt, wo Leichen bestattet werden - und was mit deutschen Gefangenen zu machen ist: Passagen aus britischen Schützengrabenregeln, die im Ersten Weltkrieg an der Westfront galten.

Nach Kriegsende wurden Cavells sterbliche Überreste nach Großbritannien überführt und in einem Staatsbegräbnis beigesetzt. Königin Alexandra enthüllte 1920 ein Denkmal mit einer Statue gleich am Trafalgar Square in London, die Inschrift: Menschlichkeit - Tapferkeit - Hingabe - Aufopferung. In Kanada wurde ein Berg nach ihr benannt, Dutzende Straßen tragen ihren Namen. Nach wie vor wird die Erinnerung an Cavell lebendig gehalten: Jedes Jahr am 12. Oktober wird an ihrem Grab in Norwich ein Gottesdienst abgehalten. Zum hundertjährigen Gedenken an den Ersten Weltkrieg kommt 2015 eine Fünf-Pfund-Münze mit ihrem Konterfei darauf heraus.

War sie doch eine Spionin?

Und auch das Spionage-Gerücht erhält neue Nahrung: In einem kürzlich ausgestrahlten Beitrag für den BBC-Sender Radio 4 präsentierte die ehemalige MI5-Chefin Stella Rimington bisher unbeachtetes Material, das ein etwas differenzierteres Licht auf die Geschichte der Krankenschwester wirft. Im Belgischen Militärarchiv in Brüssel existieren zum Beispiel Stoffstücke, auf die geheime Botschaften geschrieben waren und die in die Kleidung der Reisenden eingenäht wurden.

Erster Weltkrieg
:Die Brüder, die der Krieg zu Feinden machte

Die Tschechen Josef und František Dus sterben im Ersten Weltkrieg an der Ostfront - der eine für Österreich, der andere auf russischer Seite. Rekonstruktion einer tragischen Geschichte.

Von Oliver Das Gupta

Auch die Aufzeichnungen von Herman Capiau werden dort aufbewahrt. Er beschrieb im Jahr 1919, wie das Netzwerk, dem er und Cavell angehörten, Informationen über die Position deutscher Schützengräben, Munitionslager und Flugzeuge an das britische Militär weitergab. Cavells persönlicher Anteil an den Spionage-Aktivitäten des Netzwerks ist allerdings unklar. Egal, wie viel sie wusste, scheint es jedoch für Cavell allenfalls ein Nebenaspekt ihrer Hauptanliegens gewesen zu sein: Soldaten zu helfen nach Hause zu kommen.

Anders, als auch etwa Gottfried Benn behauptete, war Cavell der Spionage damals gar nicht angeklagt. Er versuchte in seinem Aufsatz "Wie Miß Cavell erschossen wurde", das Vorgehen der Deutschen zu rechtfertigen und den Vorwurf, eine unschuldige Frau getötet zu haben, zu entkräften: "Sie hatte als Mann gehandelt und wurde von uns als Mann bestraft." Und er ergänzt: "Ich glaube, daß die Frau von heute für diese Konsequenz nicht nur Verständnis hat, sondern sie fordert."

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Chronologie zum Ersten Weltkrieg
:Von Sarajevo bis Versailles - dazwischen das große Sterben

Der Erste Weltkrieg hat die Landkarte Europas grundlegend verändert und das 20. Jahrhundert geprägt. Eine Übersicht der wichtigsten Daten eines bis dahin nie da gewesenen Gewaltausbruchs.

Von Oliver Das Gupta

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: