Ein Jahr Punk-Gebet von "Pussy Riot":"Sie haben Geschichte geschrieben"

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Die Musikerinnen von Pussy Riot: Jekaterina Samuzewitsch (li.) ist frei - Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Aljochina (re.) in Haft. (Foto: AFP)

Vor einem Jahr betete die regierungskritische Band "Pussy Riot" publikumswirksam für die Ablösung Putins. Weltweit planen die Unterstützer in den kommenden Tagen Protestaktionen, nur die russische Opposition bleibt zu Hause. Dennoch war das Punk-Gebet nicht umsonst, meint der Schriftsteller Viktor Jerofejew im Interview.

Von Antonie Rietzschel

Nadeschda Tolokonnikowa, Maria Aljochina und Jekaterina Samuzewitsch wurden als Mitglieder der regierungskritischen Band "Pussy Riot" weltweit zum Symbol des russischen zivilgesellschaftlichen Widerstands. Am 21. Februar 2012 flehten sie in einem "Punk-Gebet" vor dem Altar der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau die Mutter Gottes an, Russland von einem zukünftigen Präsident Wladimir Putin zu erlösen.

Die Staatsanwaltschaft bewertete die Aktion als antireligiös motivierten Hass, der die geistliche Grundlage des russischen Staates untergrabe und "auf blasphemische Weise die jahrhundertealten Grundfesten der russisch-orthodoxen Kirche erniedrigt". Es folgte ein Prozess, der von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert wurde, weltweit solidarisierten sich Aktivistinnen mit den drei Frauen. Dennoch wurden die Künstlerinnen zu jeweils zwei Jahren Arbeitslager verurteilt, die Strafe von Jekaterina Samuzewitsch wandelte ein Berufungsgericht allerdings in eine Bewährungsstrafe um. Putin wolle an Pussy Riot ein Exempel statuieren, sagte damals der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew - und zieht ein Jahr nach dem umstrittenen Auftritt im Interview mit Süddeutsche.de Bilanz.

SZ.de: Barcelona, Berlin, Montreal, Prag - in all diesen Städten sind für die kommenden Tage Aktionen angekündigt, um an das Punkgebet von Pussy Riot vor einem Jahr zu erinnern. In russischen Städten sind jedoch keine offiziellen Veranstaltungen geplant - haben die Russen Pussy Riot vergessen?

Viktor Jerofejew: Niemand hat sie vergessen. Es gibt viele Menschen, die versuchen, den zwei inhaftierten Frauen zu helfen. Sie schicken ihnen Postkarten und Briefe. Jeder hier weiß, was es bedeutet, in Russland im Gefängnis zu sein: Es ist die Hölle. Ich bin sicher, dass viel auf russischen Blogs, über freie Radio- und Fernsehsender zu lesen und zu hören sein wird. Pussy Riot werden für immer ein Symbol für ein verändertes Russland bleiben. Daran glaube ich ganz fest. Sie haben Geschichte geschrieben.

Warum geht dann in Russland niemand auf die Straße?

Dafür braucht man eine Genehmigung, ansonsten muss man nach der neuen Gesetzgebung hohe Strafen zahlen.

Wie können sie ein Symbol sein, wenn die Mehrheit der Russen sich im vergangenen Jahr für eine Bestrafung der drei Frauen ausgesprochen hat?

Wir sind immer noch eine konservative Gesellschaft. Und: Die Mehrheit sind nicht alle. Veränderungen werden immer durch eine Minderheit herbeigeführt.

Wie hat sich Putins Russland seit dem Punk-Gebet vor einem Jahr verändert?

Wir haben festgestellt, dass wir in Russland eine lebendige Zivilgesellschaft haben. Hätten Sie mich vor drei Jahren gefragt, ob es das in Russland gibt, hätte ich mit Nein geantwortet. Doch heute sehe ich das anders.

Und alles wegen Pussy Riot?

Ich würde nicht sagen, dass sie dafür verantwortlich waren, dass sich die Gesellschaft geöffnet hat. Aber durch die Proteste gegen ihre Festnahme wurde der Weg dafür geebnet. Das ist nicht mehr Putins Russland, sondern das einer gestärkten Zivilgesellschaft.

Doch es gab auch viele negative Entwicklungen.

Ja. Putin hat getan, was ein Politiker nicht tun sollte. Er hat Rache geübt. Die Proteste gegen ihn haben ihm gezeigt, dass er als Präsident nicht gewollt ist. Also wurden Gesetze verabschiedet, die das Demonstrationsrecht einschränken oder es Homosexuellen verbieten, offen über ihre Sexualität zu sprechen. Das Land befindet sich derzeit in einer Sackgasse.

Inwiefern?

Ein Dialog zwischen den oppositionellen Kräften und Putin ist derzeit unmöglich. Seine Gegner sagen: "Er soll abtreten." Putin sagt: "Die USA instrumentalisieren euch." Wie soll da ein Gespräch stattfinden? Gerade vergeuden wir unsere Zeit, anstatt tatsächlich etwas zu verändern.

Werden deswegen auch die Menschen bei den Demonstrationen weniger? Zum "Marsch gegen die Schurken" kamen im Januar 20.000 Menschen zusammen, im Juni 2012 lag deren Zahl bei bis zu 100.000.

Natürlich werden die Menschen auch müde - eine Revolution kann nicht jahrelang auf der Straße ausgetragen werden. Aber die Menschen haben die Revolution in sich, und irgendwann wird es eine Explosion geben. Ich hoffe, sie wird friedlich sein. Wenn Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Aljochina in anderthalb Jahren freigelassen werden, können sie vielleicht in ein Land zurückkehren, in dem sie sicher sind.

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Nadeschda Tolokonnikowa, Maria Aljochin und Jekaterina Samuzewitsch: als Mitglieder der Punk-Band "Pussy Riot" wurden sie zum Symbol des russischen Widerstands - weltweit. Ihre "Punk-Andacht", die Verhaftung und die kämpferischen Auftritte vor Gericht:

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