Deutsche Geschichte und Nahostkonflikt:Von Opfern und Tätern

Deutsche und Polen, Israelis und Palästinenser: Wenn zwei Völker aufeinandertreffen, die sich beide nur als Opfer verstehen, ist Friede nicht einmal denkbar.

Erhard Eppler

Der Sozialdemokrat Erhard Eppler, 84, war Mitglied des Deutschen Bundestags und Minister von 1968 bis 1974. Von 1973 bis 1992 leitete er die Grundwertekommission der SPD.

Palästinenser am Checkpoint beim täglichen Weg zur Arbeit

Palästinenser am Checkpoint in Bethlehem beim täglichen Weg zur Arbeit: Auch die Palästinenser nehmen sich als Opfer wahr, was immer sie tun, ist Sie nehmen sich nur als Opfer wahr. Was immer sie tun, ist Ausdruck ihrer Opferrolle, meint der Sozialdemokrat Erhard Eppler.

(Foto: dpa)

Was haben deutsche Kinder wie ich, in der Weimarer Republik geboren, über Deutschland und die Deutschen erfahren? Vor allem, dass sie Opfer waren. Da gab es, so hörten wir, in der Mitte Europas ein ungemein tüchtiges Volk, das den Neid der anderen erregte. Kaum hatte es seine nationale Einheit ertrotzt, da schlossen sich die meisten anderen Mächte Europas zusammen und kreisten dieses Deutschland ein: die Franzosen, die Russen, die Briten. So kam es zum Weltkrieg.

"Gegen eine Welt von Feinden" konnte sich die tapfere deutsche Armee vier Jahre lang behaupten, aber dann setzte die Übermacht der Feinde sich durch, knebelte das deutsche Opfer durch das Diktat von Versailles, verlangte unvorstellbare Reparationen, um die Deutschen für den Rest des Jahrhunderts auszuschalten und zwang die Opfer auch noch, zu unterschreiben, sie allein seien schuld am Krieg.

Ausländische Politiker waren in Weimar säuberlich eingeteilt in die vielen "deutschfeindlichen" und die wenigen "deutschfreundlichen". Kritisierte ein "Deutschfeindlicher" die deutsche Regierung, so tat er bloß, was "Deutschenfeinde" eben tun. Wie es den Franzosen oder Belgiern zumute war, die vier Jahre lang das Gemetzel auf eigenem Territorium erlitten hatten, blieb ausgeblendet.

Die Deutschen nahmen sich nur als Opfer wahr. Selbstmitleid wurde zur Nationaltugend. Wer sich aber nur als Opfer wahrnehmen kann, ist nicht friedensfähig. Er hat nur Forderungen an die anderen, die Täter. Was er selbst tut, ist lediglich Ausdruck der Opferrolle und also legitim.

Sicher, Gustav Stresemann versuchte, sich in Richtung Frieden voranzutasten. Aber als die Deutschen, die schon die Katastrophe der Inflation überlebt hatten, auch noch Opfer der Weltwirtschaftskrise wurden, setzten diejenigen Kräfte sich durch, die das Selbstmitleid hochpeitschten, nicht ohne zu versprechen, das geknechtete Volk zu erlösen.

Was dann geschah, ist bekannt. Mindestens bis zum Kriegsausbruch, oft noch weit darüber hinaus, verstanden sich die meisten Deutschen nicht als Täter, sondern als reagierende Opfer. Es wurde nur "zurückgeschossen", Versailles annulliert.

Unter dem Hagel der Bomben im Zweiten Weltkrieg vergaßen die Deutschen die Jahre ihrer Täterschaft. Sie fühlten sich wieder als Opfer. Dass erst in den sechziger Jahren der Judenmord zum dominanten Thema wurde, hat zwar auch mit dem Kalten Krieg zu tun, mindestens eben so sehr aber mit dem Selbstmitleid der Nachkriegsjahre.

Erst als die Deutschen die Millionen Opfer deutschen Rassenwahns und deutscher Gewaltpolitik voll wahrnahmen und sich selbst aus ihrer Opferrolle verabschiedeten, wurden sie friedensfähig. Der Kniefall Willy Brandts am Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghetto-Aufstandes wird dafür die gültige Geste bleiben.

Ohne Vergebung keinen Frieden

Die Polen hatten seit dem späten 18. Jahrhundert allen Grund, sich als Opfer zu fühlen. Nach immer neuen Teilungen fanden sie sich als russische, preußische oder habsburgische Untertanen wieder. 1939, nach zwei Jahrzehnten der Unabhängigkeit, begann mit dem deutschen Einfall eine Unterdrückung und Demütigung, die alle preußischen oder russischen Schikanen harmlos erscheinen ließ. Die Opferrolle der polnischen Nation war auf eine bis dahin kaum vorstellbare Weise bestätigt worden.

Mit den sowjetischen Befreiern kamen die neuen Herren. Kein Wunder, dass die polnischen Opfer nach dem Krieg kaum wahrnahmen, wie sie gegenüber den Schlesiern oder Pommern zu Tätern wurden. Erst als die polnischen Bischöfe ihren deutschen Kollegen schrieben: "Wir vergeben und bitten um Vergebung", klang diese Einsicht an, ohne die es keinen Frieden gibt. Nicht von ungefähr kam der Brief der polnischen Bischöfe kurz nach der Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1965, in der aus polnischer Sicht endlich angemessen von dem die Rede war, was Deutsche Polen angetan hatten.

Die Juden hatten schon vor 2000 Jahren Grund, sich als Opfer zu fühlen. Als Untertanen Roms warteten sie auf den befreienden Messias. Während der Kreuzzüge oder in den Pestjahren 1348/49 waren sie Freiwild. Und dann, im 20. Jahrhundert, begann die Ausrottung, die Shoa. Die Gründer des Staates Israel waren meist Entkommene. Sie suchten definitiven Schutz. Sie waren überzeugt, dass sie den nur selbst, durch eigene Waffen, finden konnten.

Und doch war die Gründung Israels eine Tat, die andere, Palästinenser, zu Opfern machte. Dies änderte nichts an der israelischen Selbstwahrnehmung. Schließlich war man umgeben von Feinden. Auch als durch den Sechstagekrieg 1967 der Staat Israel zur Besatzungsmacht wurde, änderte sich nichts. Was sich in Jahrhunderten herausgebildet hat, das wird nicht durch veränderte Wirklichkeit in Jahren, auch nicht in Jahrzehnten, gelöscht. Dafür sorgen auch die Ahmadinedschads, die großen und die kleinen, die mit Auslöschung drohen, auch die dumm-stolzen Raketenbastler von Gaza. Was immer die israelische Armee tut, ergibt sich aus der Opferrolle und ist also legitim.

Wer sich selbst als Opfer sieht, ist nicht friedensfähig

Aber natürlich verstehen sich auch die Palästinenser, und zwar alle, als Opfer, gerade auch diejenigen, die sich in die Luft sprengen, um noch ein paar Israelis mit in den Tod zu reißen. Die Palästinenser sind mit Abstand die Schwächeren, und sie finden, an ihnen werde das Recht des Stärkeren exekutiert. Sie nehmen sich nur als Opfer wahr. Was immer sie tun, es ist Ausdruck ihrer Opferrolle.

Wo aber zwei Völker aufeinandertreffen, die sich beide nur als Opfer verstehen, ist Friede nicht einmal denkbar. Friede kann nur gelingen, wenn beide sich verständigen, was sie künftig zu tun gedenken, und zwar im Gegensatz zu dem, was sie bisher getan haben. Sie müssen aus ihrer Opferrolle herausfinden.

Deutsche, Polen, Juden: Haben sie nicht eine sehr verschiedene Geschichte? Sicher. Juden - und auch Polen - hatten immer weit bessere Gründe, sich als Opfer zu fühlen als die Deutschen von 1930 oder gar 1950. Das ändert nichts daran, dass, wer sich nur als Opfer wahrnehmen kann, nicht friedenstauglich ist.

Dass eine Mehrheit der Polen, zumal der jüngeren, sich anschickt, zu unbeschwerten, selbstbewussten Europäern zu werden, hat damit zu tun, dass Polen geborgen ist in der europäischen Gemeinschaft, dass es sich geschützt fühlt vom mächtigsten Militärbündnis aller Zeiten, der Nato. Vielleicht könnte nur ein verlässlicher Rahmen, der beiden, Israelis und Palästinensern, ein Gefühl der Sicherheit gibt, jene Starre lösen, in die Völker verfallen, die sich in ihre Opferrolle verkrallen.

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