Bundestag:"Vom Völkermord an den Armeniern ist nur indirekt die Rede"

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Die Experten des Donat-Verlags, die sich seit Jahrzehnten mit dem Genozid beschäftigen, wenden sich in einem offenen Brief an den Bundestag. Sie warnen die Abgeordneten vor einem schweren Fehler.

Der Donat-Verlag engagiert sich schon länger, die Gräueltaten an den Armeniern im Osmanischen Reiches zu dokumentieren und öffentlich zu machen. Im Donat-Verlag ist beispielsweise 1986 die im Auftrag des Auswärtigen Amtes von Johannes Lepsius 1919 herausgegebene Publikation "Deutschland und Armenien 1914-1918" neu erschienen (inzwischen vergriffen). Kritik übt der Verlag aber auch am Auswärtigen Amt selbst bzw. an deren Chef, Außenminister Frank-Walter Steinmeier in einem weiteren offenen Brief, der 35 Mitunterzeichner fand.

Donat ist nach eigenen Worten der bislang einzige Verlag im deutschsprachigen Raum, der sich seit 1984 systematisch mit dem Genozid an den Armeniern befasst. Nun wenden sich der Leiter des Verlags, Helmut Donat-Freiherr von Bothmer, der ehemalige Bundestagsabgeordnete und Pfarrer Steffen Reiche sowie Wolfgang Schlott, Präsident des Exil-P.E.N., in einem offenen Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Diese werden am Donnerstag über die Frage der Anerkennung des Völkermordes an Armeniern, griechisch-orthodoxen sowie aramäischsprachigen Christen abstimmen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wir wenden uns heute an Sie direkt. Wir sind besorgt, dass Sie einen schweren, nicht wiedergutzumachenden Fehler begehen.

Bei der Deklaration am 2. Juni handelt es sich um eine Entscheidung von völkerrechtlicher, historischer und politischer Tragweite. Denn nicht, wie vielfach gesagt oder behauptet wird, auf den Schlachtfeldern vor Verdun, sondern "hinten, fern in der Türkei" wurde das blutigste Kapitel des Ersten Weltkrieges geschrieben. Seit 1915 haben die Hohenzollernmonarchie, die Weimarer Republik, das NS-Regime wie auch bedauerlicherweise nach dem Zweiten Weltkrieg das Kabinett Adenauer und alle weiteren Bundesregierungen die Wahrheit über den Völkermord an den Armeniern durch das Osmanische Reich unterdrückt, geleugnet oder bestenfalls ignoriert.

Will ein deutsches Parlament die grausamen Geschehnisse als Völkermord anerkennen, hat es dieser Tatsache Rechnung zu tragen. Doch entgegen den vielfach angekündigten Verlautbarungen ist, sieht man einmal von dem Titel der Resolution ab, in dem nachfolgenden Text von einem Völkermord an den Armeniern nur indirekt die Rede. Obwohl die öffentliche Debatte über den im April 2015 vorgeschlagenen Entwurf längst hinausgegangen ist, hat man die entscheidende Passage bislang unverändert beibehalten. Sie lautet: "Das Schicksal der Armenier steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von der das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist."

Diese Formulierung ist vor dem Hintergrund des 100-jährigen Schweigens und Ignorierens seitens der deutschen Politik unangemessen und nicht hinnehmbar. Auch die Tatsache, dass im Unterschied zur Fassung von 2015 an drei weiteren Stellen von Völkermord gesprochen wird und man sich dabei auf "zahlreiche unabhängige Historiker", Redner aller Bundestagsfraktionen und auf Bundespräsident Joachim Gauck beruft, bessert daran nichts.

"Die kaiserdeutsche Regierung ist mitverantwortlich"

Des Weiteren ist die Kritik der Berliner Genozidforscherin Prof. h.c. Dr. Tessa Hofmann an dem Resolutionstext ernst zu nehmen und sollte von Ihnen berücksichtigt werden. Frau Hofmann schreibt:

"Deutschland war Urheber des ersten Genozids des 20. Jahrhunderts (Herero, Nama und andere in Namibia) sowie des im Zweiten Weltkrieg an den Juden Europas sowie Sinti und Roma begangenen Genozids. Zwischen diesen beiden Verbrechen war die kaiserdeutsche Regierung mitverantwortlich für den Genozid ihres osmanischen Kriegsverbündeten an indigenen Christen im osmanischen Staatsgebiet sowie dem 1914 und 1918 osmanisch besetzten Nordwest-Iran.

Es bedarf darum bei einer Bewertung dieser Verbrechen durch den deutschen Gesetzgeber einer klareren Position. In den bisher vorliegenden Entwurf sind leider frühere Formulierungsschwächen aus den Jahren 2005 und 2015 eingegangen. So wird der osmanische Genozid wie schon 2005 als "Massaker" und "Vertreibung" umschrieben, wobei "Vertreibung" die als Todesmärsche und unter Bewachung durchgeführten Deportationen verharmlost.

Özdemir zur Armenier-Resolution
:"Der Bundestag lässt sich nicht von einem Despoten erpressen"

Grünen-Chef Özdemir verteidigt das Vorhaben, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen - auch wenn es dadurch Ärger mit Erdoğan geben sollte.

Auch der inklusive Ansatz der Resolution sollte stärker herausgearbeitet werden: Während die aramäischsprachigen Angehörigen der größten syrischen Kirchen namentlich aufgezählt sind, werden die griechisch-orthodoxen Christen nirgends als Opfer aufgeführt, obwohl sie bereits vor dem Ersten Weltkrieg wirtschaftlichen Restriktionen und Deportationen ausgesetzt waren."

An keiner Stelle sagt der Antrag der Union, der SPD und der Grünen, dass Sie selbst die Geschehnisse von 1915 als Völkermord ansehen und verurteilen. Genau darum geht es aber - um eine Einschätzung der Legislative, der Sie angehören. Es geht nicht um die Feststellung, ob die Person X, diverse Redner oder Teile einer Berufsgruppe die Ansicht vertreten, dass ein Völkermord vorliegt.

Es ist offensichtlich, dass die oben zitierte Formulierung aus dem Entwurf vom April 2015 noch den Geist von der seit über einem Jahrhundert unseligen diplomatischen Rücksichtnahme auf die türkische Regierung atmet. Statt im althergebrachten Sinne sich weiter solch verwirrender, indirekter Formulierungen und damit zweifelhafter Sprachregelungen zu bedienen, appellieren wir eindringlich an Sie, die fragliche Textstelle zu ändern und/oder ihr den Satz folgen zu lassen: "Der Deutsche Bundestag verurteilt die Verfolgung, Massendeportationen und die systematische Ermordung von Armeniern, griechisch-orthodoxen und aramäischsprachigen Christen durch das Osmanische Reich als Völkermord."

Um es nochmals zu verdeutlichen: Ginge es darum, eine Resolution zum Holocaust zu verabschieden, würden Sie doch auch nicht erklären: "Diese oder jene Person hat die Verbrechen als Genozid bezeichnet, ebenso tun es zahlreiche Historiker. Daher steht das Schicksal der Juden beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von der das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist."

Wir bitten Sie, das armenische Volk, die griechisch-orthodoxen und aramäischsprachigen Christen sowie die Nachkommen der Opfer vor Verklausulierungen und Verallgemeinerungen, die sich auf diplomatische Rücksichten gründen, zu bewahren und den inzwischen erreichten Diskussionsstand zum Ausdruck zu bringen. Meinen Sie nicht auch, dass wir, nachdem sich US-Präsident Obama nach 70 Jahren vor den Opfern der Atombombenabwürfe in Hiroshima verneigt hat, von der Türkei erwarten können, dass sie nach 100 Jahren die Opfer des Völkermordes ehrt?

"Der Bundestag kann und darf sich nur eindeutig äußern"

Sollten Sie sich die Kennzeichnung der Gräueltäten als Völkermord nicht zu Eigen machen, laufen Sie Gefahr, vor der Geschichte als inkonsequent und unwahrhaftig dazustehen. Bei der Bewertung des vorliegenden Resolutionstextes geht es keineswegs um Haarspaltereien, sondern um einen Völkermord - das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Und wenn sich der Bundestag dazu äußert, kann und darf es nur eindeutig sein. Es ist jedweder Eindruck zu vermeiden, dass Sie sich als dessen Abgeordnete mit unausgegorenen Formulierungen in die schreckliche deutsche Tradition der Missachtung kleiner Völker stellen.

Vermeiden Sie bitte auch mit Blick auf die Weltöffentlichkeit den Eindruck, welch großes Werk Sie mit der Anerkennung des Völkermordes von 1915 leisten. Solche Instrumentalisierung eines grausamen Geschehens ist nicht nur unangemessen, es wirkt zudem heuchlerisch. In einer frühen, bereits 1918 veröffentlichten deutschsprachigen und ersten Abhandlung über die Ausrottung der christlichen Völker, gelangte der bedeutende liberale Schweizer Historiker und Journalist Samuel Zurlinden schon damals zu keinem anderen Ergebnis, als es heute der Fall ist.

Der Senat und das Abgeordnetenhaus von Uruguay haben den Völkermord an den Armeniern bereits 1965 anerkannt. Inzwischen haben sich 25 weitere nationale Gesetzgeber angeschlossen. Deutschland hätte seine geschichts- und erinnerungspolitische Bringschuld längst erfüllen können - vor zehn, zwanzig, dreißig oder mehr Jahren. Dass es sich dazu erst heute bereit zeigt, stellt sicher kein Ruhmesblatt deutscher Politik dar. Insofern halten wir es auch verfehlt, mit der Debatte vom April 2015 Kennzeichnungen wie "Sternstunde des Parlaments" zu verbinden.

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Am 24. April 1915 begann die armenische Katastrophe. Zeitgenössische Bilder zeugen von Vertreibung, Hunger und Tod. Sie sind bis heute ein wichtiger Beweis für den Völkermord.

"Die Mitverantwortung Deutschlands an dem Völkermord gehört klar benannt"

Wenn sich die Volksvertreter einer Nation entschließen, endlich der Wahrheit zu folgen, die seit gut 100 Jahren auf dem Tisch liegt, so ist das sehr zu begrüßen, aber es darf kein Grund sein, sich auf die Schultern zu klopfen. Vielmehr ist diese Unrühmlichkeit deutscher Politik in der Resolution nicht nur beiläufig zu erwähnen, sondern deutlich zur Sprache zu bringen und zu verurteilen.

Gleiches gilt für die Mitverantwortung Deutschlands an dem Völkermord von 1915/16. Auch sie gehört klar benannt. Darauf zu verzichten, würde bedeuten, den eigenen Schuldanteil an den Verbrechen durch Verschweigen und Weglassen zu leugnen bzw. sich weiter auf jenen traditionellen Bahnen zu bewegen, die dem deutschen Ansehen in der Welt geschadet haben. Die Behandlung des Völkermordes darf auch nicht Gegenstand parteipolitischen Streites und Haders sein.

Wir bitten Sie daher sehr, die Entschließung um die genannten Punkte zu erweitern, vermeintlich unbequeme Tatsachen anzuerkennen, keinen üblen Beigeschmack aufkommen zu lassen und damit der Wahrheit und Gerechtigkeit den Weg zu öffnen.

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