Bundespräsident:Gauck fordert Deutsche zu "gesundem Selbstvertrauen" auf

In seiner Abschiedsrede ermuntert der scheidende Bundespräsident die Deutschen, stolz auf die Verfassung zu sein und sich als modernes Land zu verstehen - ohne in Nationalismus oder dem Rechtspopulismus zu verfallen.

Analyse von Oliver Das Gupta

"Die entscheidende Trennlinie in unserer Demokratie verläuft nicht zwischen Alteingesessenen und Neubürgern, auch nicht zwischen Christen, Muslimen, Juden oder Atheisten. Die entscheidende Trennlinie verläuft zwischen Demokraten und Nicht-Demokraten. Es zählt nicht die Herkunft, sondern die Haltung."

Die Rede, die Joachim Gauck an diesem kalten Mittwoch im Januar im Schloss Bellevue hält, ist mehr als eine Bestandsaufnahme. Es geht ihm uns große Ganze, ums Grundsätzliche, wie sonst einem Kanzler bei seiner ersten Regierungserklärung. Gaucks stellt fest, er analysiert, er würdigt.

In knapp einer Woche wird Gauck 77, mit Blick auf sein Alter tritt er nicht für eine zweite Amtszeit an. Mit der Antwort auf den Titel seiner Abschiedsrede "Wie soll es aussehen, unser Land?" zeigt sich das scheidende Staatsoberhaupt bemerkenswert der Zukunft zugewandt. Dieser Bundespräsident verabschiedet sich mit einer großen Rede. Sein Vermächtnis ist ein Plädoyer für ein modernes Deutschland.

Besonders interessant in seiner letzten großen Ansprache als Bundespräsident sind aber vor allem seine klaren Aufforderungen: Die Bürger sollen selbstbewusst auf sich und ihr Land schauen, das von den Werten des Grundgesetzes geprägt ist. Die deutschen Politiker sollen sich nicht scheuen, international - vor allem in der Europäischen Union - eine Führungsrolle zu übernehmen. Gauck warnt vor extremen Strömungen, besonders vor dem Rückfall in Nationalismus.

Gauck beginnt seine Rede mit einer Einschätzung der aktuellen Lage der Nation. Die ist ernst, "Gefahren drohen", wie Gauck referiert: Die Krise der EU, die Bedrohung durch den Terrorismus, die Auswirkungen von Kriegen im Nahen Osten und der Ukraine, der Nationalismus in Deutschland und anderswo in Europa, die Rolle des autoritären Russland.

Gauck kommt bei seiner Aufzählung auch Donald Trump zu sprechen, ohne diesen beim Namen zu nennen. "Mit dem Amtsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten stehen wir vor Herausforderungen für die völkerrechtsbasierte internationale Ordnung", sagt Gauck. Seine Sorge ist: "Die liberale Demokratie und das politische und normative Projekt des Westens stehen unter Beschuss."

Gerade am Ende der Ansprache wirkt er, als ob er wieder der ostdeutsche Pastor wäre, der warm und doch eindringlich ermuntern und aufrichten will. Gaucks "Fürchtet-euch-nicht" ist seine wiederholte Forderung nach Entschlossenheit.

Wesentliche Punkte aus Gaucks Rede im Überblick:

Ermunterung zu Verfassungspatriotismus. Gauck ruft die Deutschen zu "gesundem Selbstvertrauen" auf. Er verweist auf die vergangenen Jahrzehnte, in denen sich im Westen eine stabile Demokratie entwickelt habe und es im Osten eine friedliche Revolution gegeben habe. Dreh- und Angelpunkt sind für Gauck die Verfassung und ihre Werte.

Er erzählt von einer Bekannten, die nach der Lektüre des Grundgesetzes die Emotionen packten: "Sie habe plötzlich Stolz auf die Vorfahren verspürt, die Deutschland nach so vielen Jahren der Kriege und der Diktatur auf eine demokratische Grundlage gestellt haben", sagt Gauck. Sich selbst bezeichnet er als "Verfassungspatrioten". Neben der Kultur und Sprache empfinde er Deutschland als "Heimat meiner Werte", sagt Gauck. "Besonders deswegen fühle ich mich hier zu Hause."

Der Präsident zitiert Willy Brandt. Der SPD-Kanzler habe 1972 gesagt: "Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land!" Er selbst, fügt Gauck - abweichend vom Redemanuskript - hinzu, "hätte damals noch nicht so sprechen können" - solch einen Stolz auf ein friedliches, demokratisches Deutschland hielt er damals wohl noch nicht für angebracht. "Selbstvertrauen haben wir lange nicht leben wollen", sagt er und ergänzt ebenso spontan: "nicht leben können". Ähnlich hatte sich Joachim Gauck schon im großen Interview geäußert, das er kurz vor seinem Amtsantritt SZ.de gegeben hat.

Abwehr von Nationalismus und Extremismus. Gauck unterscheidet in seiner Rede immer wieder und klar zwischen dem Patriotismus des Grundgesetzes und dem Nationalismus und seinen Verfechtern. Mit diesem Schwerpunkt in seiner Rede schließt sich ein Kreis, hatte Gauck doch gleich nach seiner Vereidigung im Jahr 2012 erklärt: "Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich."

Zwar betont er, dass auch Meinungen jenseits der politischen Mitte zum demokratischen Diskurs gehörten, denn die "Demokratie ist ein großes Zelt". Das Miteinander ende allerdings dort, wo Hass gepredigt und Gewalt ausgeübt werde, das gelte für jegliche Motivation, sagt Gauck, auch für islamistische. In diesem Zusammenhang geißelt der Präsident "Informationskriege" von "ausländischen Mächten", um Staaten gezielt zu destabilisieren. Gauck nennt keine Namen, aber im Kreml dürfte man diese Sätze womöglich aufmerksam lesen.

Auch die AfD erwähnt das Staatsoberhaupt nur indirekt, aber klar erkennbar: "Bewegungen" würden "kulturelle Geschlossenheit" propagieren, sie erklärten sich "zum alleinigen Sprecher des Volkes und attackieren das sogenannte System". Ein Blick ins AfD-Programm reicht, um den Adressaten zu identifizieren (hier mehr dazu).

Gauck sagt, die Sicherung der EU-Außengrenzen sei wichtig, was man als Seitenhieb auf Kanzlerin Angela Merkel verstehen kann. Außerdem nennt der Präsident Deutschland ein "junges Einwanderungsland". Neuankömmlinge müssten sich wie Alteingesessene an Gesetze halten. Hass, Hetze und Gewalt von Rechtsextremisten seien ebenso inakzeptabel wie Normenverletzungen von Einwanderern - und das Schweigen darüber. Entscheidend sei nicht, welcher Religion jemand angehöre oder ob er Neubürger sei. "Die entscheidende Trennlinie verläuft zwischen Demokraten und Nicht-Demokraten", sagt Gauck. "Es zählt nicht die Herkunft, sondern die Haltung."

Deutschland soll Führung in der EU übernehmen. Eine Kernüberzeugung derjenigen, die die Bundesrepublik nach Gaucks Worten gefährden, ist ihre Europafeindlichkeit. Deutschland aber könne "mehr Gestaltungswillen als bisher für das größere Ganze aufbringen". Um dem ganzen Nachdruck zu verleihen, ruft er: "Wir können? Wir müssen!" Weil die EU angefeindet und in der Krise ist, findet es der Präsident unabdingbar, dass sich Berlin mehr als bisher engagiert. Dazu ruft er auch den deutschen Politikern zu: Habt Selbstvertrauen. Es gelte, Friedfertigkeit und Dialogbereitschaft zu erhalten. "Dafür muss sich Deutschland engagieren, wenn das eigene Land und andere Staaten nicht zum Spielball der Interessen jener werden sollen, die ganz andere Ziele verfolgen", sagt Gauck.

Dass Deutschland mehr gestalten solle, wenn es nicht von den Interessen anderer bestimmt sein will, darauf kommt Gauck immer wieder zurück. Er kreist vor allem um Russlands Präsidenten Wladimir Putin (ohne ihn zu nennen) und die Gefahr, dass Europa politisch erodiert: Deutschland und die EU könnten dabei zusehen, wenn autoritäre Staatenlenker bisherige Normen kippen und eigene Regeln diktieren, und lediglich "Schadensbegrenzung betreiben". Angesichts der gewaltigen Herausforderungen dürften "wir Europäer, wir Deutschen uns dieser Verantwortung nicht entziehen".

Wohl auch vor dem Hintergrund der jüngsten Äußerungen des künftigen US-Präsidenten Donald Trump, der sich abfällig über die Nato äußerte, hebt Gauck die Rolle des Bündnisses hervor. Er spricht sich für eine "verbesserte Verteidigungsfähigkeit" aus und pocht auf das "unzweideutige" Bekenntnis zum Beistand für die osteuropäischen Verbündeten.

Offenheit für Wandel. Für Gauck ist unabdingbar, dass sich Deutschland verändern muss - allein schon deshalb, weil sich die äußeren Rahmenbedingungen ändern. Gauck räumt ein, dass "sehr häufig machtvolle Ängste markante historische Umbrüche begleitet haben". Doch dann verweist er auf die Historie: So sei aus der Industriellen Revolution, die die Gesellschaft "mit einer Plötzlichkeit ohnegleichen" umpflügte, Elend und Reichtum entstanden. Schließlich aber habe der Weg in Deutschland zu einer sozialen Marktwirtschaft geführt und damit zu einem "relativen Wohlstand für Arbeiter".

Gauck nennt verschiedene aktuelle Themen wie Klimawandel und Bevölkerungswachstum, globale Probleme, mit denen man sich auseinandersetzen müsse, denn "Deutschland kann sich nicht zur Insel machen". Der Präsident hebt den Stellenwert der Digitalisierung hervor - ein Thema, das über die Zukunft entscheide und trotzdem von der Tagespolitik selbst im Wahljahr nicht in seiner Wichtigkeit beachtet werde.

Die politisch Verantwortlichen sollen auch ihr Verhalten ändern und die Demokratie aufs Neue verteidigen."Wir werden übersehen, welche Potentiale in uns stecken, wir verharren in einer ewigen politischen Warteschleifen - in einer unheilvollen Kultur von Ängstlichkeit, Indifferenz und Selbstzweifel", sagt Gauck und warnt: "Bis andere, mit anderen Werten und ganz ohne Selbstzweifel, Hand an unsere Lebenswelt, an unsere Freiheit legen." Es ist eine Rede wie ein Weckruf.

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