Brexit:Was Briten über den Brexit sagen

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Dorothea und Alastair fürchten sich vor einem Brexit, Jim kann ihn gar nicht erwarten. Und Aida versteht ihre Freunde nicht mehr. Das Land ist zerstritten.

Von Thorsten Denkler, London

Shakespeare Tower, 16. Stock. Dorothea und Alastair wohnen hier, am nördlichen Rand der City of London. Ihr Betonturm ist der mittlere von dreien. Das Ensemble versprüht den robusten Charme einer Ölbohrinsel. Hier wohnen? Nun, es ist eine begehrte Adresse. Die Preise haben sich in zehn Jahren mehr als verdoppelt. Ein Appartement in einem der Türme kostet mindestens eine Million Pfund.

Alastair ist Banker, Investmentbanker. Seine Frau Dorothea kommt aus Deutschland, sie ist Kuratorin für Gegenwartskunst. Der Ausblick sagenhaft. "Wir können den Regen von hier oben kommen sehen", sagt Dorothea. Gerade kommt er nicht, der Londoner Regen ist schon da. Kräftig und ausdauernd.

Alastair und Dorothea in ihrer Londoner Wohnung. Sie haben noch Hoffnung, dass es nicht zum Brexit kommt. (Foto: Thorsten Denkler)

Der Brexit also. Seine kleine Tochter klettert Alastair auf der Schulter herum. "Ein totales Desaster", sagt er. Schon jetzt. Und erst recht, wenn es so weit kommt. Wenn die Briten am 23. Juni tatsächlich für den Ausstieg aus der Europäischen Union stimmen.

Alastair sieht nicht, wer das umsetzen soll. Das Unterhaus, das britische Parlament ist mehrheitlich für den Verbleib. Die Leave-Seite ist sich uneins über die Ziele. Auch Neuwahlen werden die Machtverhältnisse im Parlament nicht ändern. Das Referendum ist rechtlich gesehen nur ein unverbindlicher Auftrag an die Regierung. Alastair und Dorothea hoffen trotzdem, dass es zur Diskussion über die Umsetzung gar nicht erst kommt. Dass es bei "if" und "when" bleibt, falls und wenn. Dass die Briten vernünftig sind. Und am Ende für den Verbleib stimmen.

Szene am Straßenrand. (Foto: Thorsten Denkler)

Der Finanzplatz London? Alastair ist Teil davon. Sein Unternehmen investiert in Start-ups, auch in Berlin. Die Aussichten seien düster, sagt er. "Der Finanzplatz würde sehr geschwächt." Er befürchtet, dass viele Banken abwandern. Vor allem die, die in London sind, weil sie in Europa Geschäfte machen wollen. Die gehen dann nach Frankfurt, nach Dublin oder Paris. Je nachdem, wo das Business ist.

Hoffnung. Mehr haben Alastair und Dorothea gerade nicht. Die Umfragen sehen schon mal die Leave-Seite bei 55 Prozent. Jetzt heißt es, es werde eine Kopf-an-Kopf-Rennen geben. Viele seien noch unentschlossen. Weiß keiner, wie das ausgeht. Aber wohin gehen, wenn der Brexit kommt? Dorothea ist Deutsche. Kann sie bleiben? Müssen sie heiraten? Alles ungeklärte Fragen.

Eine politische Union? Lieber nicht.

Jim würde es freuen, wenn es zum Brexit käme. Ein Kriegsveteran, die Brust voller Orden. Er war in Deutschland stationiert, in Münster und Osnabrück. Jetzt steht er an der Mall, der Prachtallee zwischen Trafalgar Square und Buckingham Palace. Den Gehstock hält er in der einen Hand, die andere Hand liegt stramm am Barett, die Hacken stehen streng zusammen. Er salutiert. Die Queen fährt in ihrer Kutsche vorbei. Die Menschen jubeln ihr zu. "Trooping the Colour" heißt die Zeremonie, der sie gerade zu Ehren ihres 90. Geburtstages beiwohnt. Seit 1748 wird das so gemacht. Tradition eben.

Jim wird für Leave stimmen, egal was das für den Finanzplatz London heißt. Ihm geht es um Sicherheit. Wenn jeder EU-Bürger einfach so einreisen kann, dann "haben wir keine Kontrolle über unsere Grenzen", sagt er. Er will das nicht. Er mag es auch nicht, dass "ungewählte Kommissare" in Brüssel Gesetze für die Briten machen. Oder, dass europäische Gerichtshöfe britische Gerichtshöfe überstimmen können. Er will das einfach alles nicht. Mit dieser ganzen Idee der Europäischen Union war er "nie einverstanden". Freier Handel ist in Ordnung. Aber eine politische Union? Nicht mit ihm. Jetzt muss er los. Der Weg zurück ist weit für einen alten Mann.

Wie Jim denken viele hier. Wenn auch nicht alle. Ein paar Meter weiter sitzt Charles auf den Treppenstufen der Duke of York Column, umgeben von Hunderten anderen, die auf die Queen warten.

Unter dem ergrauten Schnurrbart ein freundliches Lächeln. Auf dem Kopf trägt er tatsächlich einen Tropenhut. Darüber hat er noch ein Papp-Hütchen in den Farben der britischen Flagge gestülpt. Very british. Und glasklar: Leave-Seite.

Charles kommt aus der Nähe von Northampton, knapp 100 Kilometer nördlich von London. Und wie viele aus der Provinz will auch er sein altes Großbritannien zurückhaben. Mit der Betonung auf Groß. Darum will er raus aus der EU.

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Und wegen der Grenzen, die nicht mehr sicher seien. Und weil er nicht irgendwann in den Vereinigten Staaten von Europa aufwachen will. "Und weil er die Deutschen nicht hier haben will", ruft ein Bekannter dazwischen. Alle lachen. Ein Scherz.

Rentner für Leave. Abby aus Schottland findet das nur typisch. Rote Lippen, kreisrunde, schwarze Sonnenbrille, tiefschwarz gefärbte Haare. Sie arbeitet im Kunstmanagement. In oder Out, das ist keine kulturelle Frage für sie. Sondern eine Frage der Generationen. Und zwar "mehr als alles andere".

Sie sieht die jungen Menschen um sich herum: Sie reisen viel, arbeiten im Ausland, haben Freunde aus ganz Europa, die in London studieren oder arbeiten.

Abbys Einschätzung deckt sich mit den landesweiten Umfragen. Je älter die Befragten, desto eher stehen sie auf der Leave-Seite. Das gilt auch für den Bildungsgrad. Je höher der ist, desto eher für "Remain". Es gibt ein Stadt-Land-Gefälle. Nur die Schotten fallen raus. Die stehen mehrheitlich hinter Europa.

So wie Gene und Aileen. Arm in Arm stehen die beiden Schottinnen da, mit Queen-Elizabeth-T-Shirts und Fan-Schals in den britischen Farben.

Aileen trägt sogar einen Plastikblumenkranz in rot-blau-weiß auf dem Kopf. Patriotinnen eben. Sind sie auf der Remain-Seite? "Yes!", sagen sie beide, "definitiv". Und nicken, als könnte es auf diese Frage gar keine andere Antwort geben. Sie machen keine großen Worte. "Uns geht es allen besser, wenn wir zusammenstehen", sagt Gene. Das soll reichen.

Aida aus Kolumbien stimmt auch für "Remain". Seit zehn Jahren lebt sie in Großbritannien, ist inzwischen eingebürgert. Sie hat es sich mit ihrem Sohn auf dem Schoß in dessen Buggy bequem gemacht. Auf die Queen zu warten kann anstrengend sein.

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Die Migranten, sagt sie, "die haben das Land mit aufgebaut". Sie kann nicht verstehen, warum die Briten jetzt so viel Angst vor ihnen haben. Verrückt, irre, findet sie all jene, die für den Brexit stimmen wollen. Sie lächelt breit. Als könne sie selbst nicht fassen, dass Menschen ernsthaft für den Brexit stimmen wollen. Das kann nicht gutgehen für die Wirtschaft, glaubt sie.

Sie hat sich selbst ein kleines Geschäft aufgebaut und profitiert von Leuten aus dem Ausland. Als Kunden und als Arbeitnehmer. "Ich habe Jobs gemacht, die kein Brite machen wollte", sagte sie. Die sollen froh sein, dass es Migranten gibt.

Ein Freund mischt sich ein. Hagerer Typ, blass. Er hat eine großformatige Ausführung des Union Jack um die Schulter gelegt. Wie ein Batman-Umhang. Nur dass er eher wie das Gegenteil von Batman aussieht. Er will raus aus der Europäischen Union.

Seinen Namen will er nicht sagen. Aida hält sich die Hand vor den Mund, steht aus dem Buggy auf. Eine kleine Frau, sie reicht ihm gerade bis zur Achsel. Aida ist erschrocken. Er ist ein Freund der Familie, doch sie haben nie über den Brexit gesprochen. "Warum?", fragt sie ihn. Er gibt die falsche Antwort: Wegen der Migranten, weil die Grenzen nicht sicher sind. Jetzt wird es hitzig. Besser weitergehen.

Drummond Street, Ecke Gower Street. Es ist Abend. Mild. Kein Regen. Ein Pub an der Ecke. "The Crown & Anchor", das "Krone und Anker". Das Bier wird von kleinen Brauereien geliefert. "Redempton Urban Dusk" oder "Captain Cat" heißen die Marken hier.

Alex sitzt mit seiner Freundin draußen. Schwarzer Bart, schwarze Brille, schwarz-rotes Karo-Hemd. Brexit? Klar kann er was dazu sagen.

Er arbeitet für eine Softwarefirma. Mehr als die Hälfte der Mitarbeiter in seinem Team kommt aus EU-Ländern. Aus Polen oder Spanien zum Beispiel. Schon deshalb wäre ein Brexit kaum zu verkraften. Kommt er, wird es schwer, fähige Arbeitskräfte zu finden, sagt er. Er versteht nicht, wie die "Leave"-Bewegung die Einwanderung aus EU-Ländern so verteufeln kann.

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Europa ist eben weit weg für manche Briten.

Zurück im Shakespeare-Tower. Dorothea hatte in den vergangenen Jahren Gelegenheit, die Briten zu beobachten. Sie selbst stammt aus Ostdeutschland. Hat die DDR noch erlebt. Jetzt lebt sie mit Alastair mitten im Zentrum des Finanz-Kapitalismus.

Sie spricht über ihren Mann. Es ist eine Geschichte, die sie für symptomatisch hält, wenn es um das Verhältnis der Briten zum Kontinent, zu Europa, geht. Ihr Mann ist in Afrika geboren, seine Eltern haben damals über zehn Jahre dort gelebt. Sein Vater reist ohne mit der Wimper zu zucken ans andere Ende der Welt, sagt sie. "Aber nach Frankreich oder Italien? Mein Gott, das ist fast zu aufregend."

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