Billige Arbeitskräfte:Wie der Bundestag Scheinselbständige ausnutzt

Der Deutsche Bundestag verstößt gegen Vorschriften, die er selbst für alle Unternehmen im Land erlassen hat: Die Verwaltung beschäftigt kostengünstige Scheinselbständige - wer auf seine Rechte pocht, bekommt Ärger.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Daniel Moucha, 41, hat seine Arbeit gemocht. Neun Jahre ist er als mobiler Öffentlichkeitsarbeiter für den Bundestag durch Deutschland gefahren, hat den Menschen erklärt, wie das Parlament funktioniert und was die Abgeordneten für sie tun. "Ich war", sagt er, "ein überzeugter Demokrat." Heute, gut vier Jahre später, kann das Moucha so eindeutig nicht mehr sagen. Es gibt Tage, an denen zweifelt er an der Demokratie, für die er sich so lange eingesetzt hat. Dann kommt er sich vor wie der Landvermesser in Kafkas Romanfragment "Das Schloss", der ohnmächtig einer unnahbaren, gewaltigen Hierarchie gegenübersteht.

Mouchas Albtraum begann, als er es 2009 wagte, einmal in eigener Sache den Mund aufzumachen. Damals wandte er sich an die damalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Gerda Hasselfeldt (CSU), und an die Deutsche Rentenversicherung (DRV). Es ging dabei um die Frage, ob die Bundestagsverwaltung ihn und seine Kollegen korrekt bezahlt und zu Recht als freie Honorarkräfte - und nicht als Angestellte - behandelt. "Statusfeststellungsverfahren" nennt man das bei der DRV. "Mein Vorgesetzter hat mir dies damals selbst empfohlen, damit die unsichere rechtliche Lage geklärt wird", sagt Moucha.

Inzwischen weiß er, dass er damit offenbar aneckte. Der junge Mann bekam vom Bundestag keine Aufträge mehr. Da half es ihm auch nicht, dass ihm die Rentenversicherung in einem sechs Seiten langen amtlichen Bescheid seine Sicht der Dinge bestätigte. Die Bundestagsverwaltung hätte Moucha demnach als Arbeitnehmer einstellen müssen, für den Sozialabgaben zu bezahlen sind. Tatsächlich wurde er laut der Prüfung durch die DRV wie ein Scheinselbständiger beschäftigt.

Verräterische Indizien

Die Vorschriften sollten jedem Personalreferat bekannt sein: Wer über seine Arbeitszeit in einer eigenen Betriebsstätte frei verfügen kann und ein unternehmerisches Risiko trägt, gilt als selbständig. Wer dagegen in einem Betrieb arbeitet, von Vorgesetzten Weisungen erhält und nicht bestimmen kann, was, wie lange und wo er arbeitet, ist ein Arbeitnehmer.

Da können schon kleine Indizien verräterisch sein, zum Beispiel eine Kleiderordnung. Nach dieser sollen sich die 60 mobilen Öffentlichkeitsarbeiter des Bundestags bei ihren Auftritten auf Messen, Wanderausstellungen oder mit dem Info-Mobil so anziehen, dass sie dem Ansehen eines Verfassungsorgans Rechnung tragen. Die DRV folgerte daraus im Fall Moucha: Wer mit einer bestimmten Kleidung zur Arbeit müsse, könne nicht als selbständig eingestuft werden.

Die Klage vor dem Sozialgericht läuft noch

Hat der Bundestag also als Arbeitgeber gegen die Vorschriften verstoßen, die er selbst für alle Unternehmen im Lande erlassen hat? Die Betriebsprüfer der Rentenversicherung hakten nach und wurden fündig. Anfang Mai 2012 verdonnerte die DRV die Parlamentsverwaltung, knapp eine Million Euro an Sozialabgaben nur für die Jahre 2006 bis 2009 nachzuzahlen. Allein für Honorarkräfte in der mobilen Öffentlichkeitsarbeit wie ehemals Moucha wurden mehr als 730.000 Euro fällig, der Rest für die Mitarbeiter, die sich um die Besucher des Reichstagsgebäudes kümmern. Das bestätigte die Pressestelle des Bundestags der Süddeutschen Zeitung. 50 dieser Besucherbetreuer hat der Bundestag mittlerweile als studentische Aushilfskräfte angestellt.

Das Sozialgericht Berlin hatte im Oktober 2012 entschieden, der Bundestag habe einer Besucherbetreuerin Rentenversicherungsbeiträge vorenthalten. Die Studentin hatte wie Moucha von der Rentenversicherung bescheinigt bekommen, dass sie scheinselbständig beschäftigt war. Gegen den Bescheid der Rentenversicherung klagte jedoch der Bundestag, was beim Sozialgericht für einige Verwunderung sorgte: Schon die Innenrevision des Parlaments sei zu dem Ergebnis gekommen, dass bei den Besucherbetreuern "typische Merkmale eines selbständig tätigen Unternehmers fehlen". Es sei deshalb "unverständlich, mit welchem - auch finanziellem - Aufwand sich der Deutsche Bundestag gegen die (. . .) Beitragspflicht zugunsten der Rentenversicherung wehrt", heißt es in dem Urteil.

Bundestag hat Widerspruch eingelegt

20.000 Euro hat der Bundestag nach eigenen Angaben bereits für juristischen Beistand ausgegeben. Auch gegen die Zahlung der 730.000 Euro für die Mitarbeiter in der mobilen Öffentlichkeitsarbeit hat die Verwaltung Widerspruch eingelegt. Und gegen den Bescheid der Rentenversicherung im Fall Moucha läuft noch die Klage vor dem Sozialgericht. Die Verwaltung ist nach wie vor davon überzeugt, dass keine Scheinselbständigkeit vorliegt, obwohl nach den Erkenntnissen der Rentenversicherung viel dafür spricht: Es habe sowohl mündliche wie schriftliche Arbeitsanweisungen gegeben, und es sei Arbeitsmaterial wie Broschüren, Plakate oder Souvenirs zur Verfügung gestellt worden.

"Ein unternehmerisches Handeln bezüglich einer freien Preisgestaltung und Kalkulation, der Möglichkeit, Aufträge zu delegieren, der Werbung und unternehmerischen Chance, unvorhersehbare Gewinne zu erzielen, ist nicht erkennbar", heißt es in dem Bescheid. Derzeit durchleuchtet die Rentenversicherung den Besucherführungsdienst des Bundestags. Das sind 30 bis 40 ebenfalls selbständig gestellte Honorarkräfte, die Vorträge oder Seminare halten und Besucher durch das Reichstagsgebäude geleiten.

Grüne wollen Thema zum Ältestenrat bringen

Katja Keul, parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Bundestag, hat für das Vorgehen der Parlamentsverwaltung schon lange kein Verständnis mehr. "Der Bundestag erlässt arbeitsrechtliche Vorschriften. Dann muss er sich auch selbst daran halten und darf keine Scheinselbständigen beschäftigen." Wenn die Rentenversicherung dies aber feststelle, solle die Bundestagsverwaltung "dagegen nicht Widerspruch einlegen, sondern dies akzeptieren". Keul, die in der für innere Angelegenheiten zuständigen Kommission des Ältestenrats des Bundestags mehrmals auf das Problem hingewiesen hatte, will das Thema beim Treffen des Gremiums an diesem Mittwoch erneut ansprechen.

Nicht mal ein Zeugnis hat Moucha erhalten

Daniel Moucha, der die ganze Lawine ins Rollen brachte, würde am liebsten einen Schlussstrich unter dieses unerfreuliche Kapitel in seinem Leben ziehen. Er hat Briefe an mehr als 100 Abgeordnete geschrieben, viel Geld für Anwälte ausgegeben, Strafanzeigen gestellt. Er hat beharrlich für seine Rechte gekämpft und, so formuliert er es, "gegen die Rechthaberei einer Verwaltung, die ihre eigenen Fehler nur vertuschen will". Nur interessiere sich kaum einer für seinen Fall. Seit ihm die Bundestagsverwaltung keine Aufträge mehr gab, ist er arbeitslos.

Nicht mal ein Zeugnis hat er von seinem früheren Arbeitgeber bekommen, weil ihm dies nach der Rechtsauffassung der Bundestagsverwaltung formal gar nicht zusteht. Aber er will sich nicht unterkriegen lassen und hofft auf einen neuen Job, wenn sein Ärger mit dem Bundestag vorbei ist. So einen wie ihn, der sich für eine Sache engagiert, könne man doch gebrauchen, sagt er. Vielleicht kommen dann ja auch wieder Tage im Leben des Daniel Moucha, in denen er wieder mehr an die Demokratie glaubt.

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