Außenansicht:Von wegen Volkswille

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Mit dem Brexit hat sich Großbritannien verrannt. Während Premierministerin May hohle Phrasen wiederholt, bewahrt die Queen ihre Würde.

Gastbeitrag von Jeremy Adler

Der Brexit ist eine Revolution. Nur wer sich darüber im Klaren ist, kann die tragische Farce begreifen, die sich seit einem Jahr in Großbritannien abspielt. In erster Linie richtet sich der Brexit gegen die vermeintliche Macht Brüssels. In Verkennung der wahren Verhältnisse berufen die Brexit-Befürworter sich auf den von Thomas Hobbes 1651 in seinem "Leviathan", dem Gründungswerk der britischen Staatstheorie, definierten Begriff der Souveränität. Dieser passt längst nicht mehr zum heutigen Stand der Lehre. Im Sinne von Hobbes wollte man die Souveränität von der EU zurückerobern, hieß es.

In einer grotesken Verdrehung feierte man den vermeintlichen Sieg mit Worten, die an die amerikanische Unabhängigkeitserklärung erinnerten. Doch die Theoretiker wissen, dass Souveränität nicht absolut sein kann, weil es Umstände gibt, die sie begrenzen. In Anbetracht der internationalen Beziehungen, die jeder Staat pflegt, kann man nicht an einer solchen Vorstellung von Absolutheit festhalten. Dies doch zu tun, kommt einer Flucht in die Vergangenheit gleich.

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Brexit widerspricht Rousseaus Idee des allgemeinen Willens

Besitzt aber Großbritannien überhaupt eine Verfassung? Zu den größten Mythen der Briten gehört ja ihre ungeschriebene Verfassung. Was es aber schon gibt, sind Bräuche und Gepflogenheiten sowie eine große Zahl von Urkunden, Dokumenten, Gesetzen und Kommentaren, die als bindend betrachtet werden, angefangen von der Magna Carta (1215) über die Bill of Rights (1689) bis hin zum Human Rights Act (1998). Was in der Tat fehlt, ist eine systematisch kodifizierte Ordnung.

Die Magna Carta gilt als Gründungsurkunde des Staates. Manche sehen in ihr die wichtigste Verfassung aller Zeiten. Zentraler Punkt ist der Artikel, der die Freiheit begründet: "Kein freier Mann soll verhaftet, gefangen gesetzt, seiner Güter beraubt, geächtet, verbannt oder sonst angegriffen werden." Das ist der Grundsatz, der von Britannien und Amerika sowie von zahllosen anderen Ländern akzeptiert wurde.

Der Philosoph John Locke, der die Verfassung nach der englischen Revolution im 17. Jahrhundert zu festigen versuchte, hat 1698 Freiheit an Recht gebunden, eine Errungenschaft, die weiterhin gilt. Freiheit, wie man sie in England begreift, beinhaltet Ordnung. Als man 1789 versuchte, diesen Rechtsbegriff in Frankreich einzuführen, übersah man die Bindung an das Ordnungsprinzip, was furchtbare Folgen hatte.

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Die Brexit-Befürworter haben in ihrer Unwissenheit nun das Prinzip der Französischen Revolution auf den britischen Inseln eingeführt, nämlich Rousseaus Begriff einer "volonté générale", den man in der französischen Erklärung der Menschenrechte feierte. Dieser von Denkern wie Hegel längst verworfenen Idee eines "allgemeinen Willens" widerspricht jedoch das britische Konzept.

Kein Raum für ungezügelten Volkswillen

Als Ansammlung individueller Freiheiten lässt es sich nicht dem Volkswillen unterordnen. Indem man heute den "Willen des Volkes" in die Wirklichkeit umsetzen will, rüttelt man mithin am Fundament der britischen Verfassung. Den Angelpunkt der Macht verschob man von der legitimen Kabinettsregierung des Premiers auf den unwägbaren Willen des Volkes.

Die britische Verfassung ist weit davon entfernt, nicht zu existieren, und sie ist höchst komplex. Sie ist mit Gesellschaft und Kultur, mit Recht, Historie und selbst mit der Dichtung verwoben. Diese von Machiavelli bevorzugte "gemischte Verfassung" vereint drei Regierungsformen in sich, die sich eigentlich widersprechen: Demokratie, Aristokratie und Monarchie. Wie Machiavelli 1531 darlegte, ziehen die weisesten Gesetzgeber dieses System allen anderen vor, weil sich die Strukturen gegenseitig limitieren. In diesem zarten Gewebe gibt es keinen Raum für einen ungezügelten "Volkswillen".

Die Krone hat sich in dieser Lage als weise Anführerin zu verhalten wie in einem Drama von Shakespeare. Tatsächlich berührt die Königin wie eine absolute Monarchin jeden Aspekt des Lebens, auch wenn sie keinen Machtanspruch hat. Was wie Pomp wirkt, ist von einer tiefen Ethik getragen, von einem Ideal der Diensterfüllung, das allerdings nicht von solcher Starrheit ist wie die preußische Pflichtschuldigkeit.

Die Königin ist zwar eine "konstitutionelle Monarchin", aber sie weiß auf subtile Art die Politik zu beeinflussen. Neulich etwa trug sie anstatt ihrer Krone einen Hut mit Sternchen in den Farben der EU-Fahne, als sie im Parlament die Brexit-Gesetze verkündete. Es ist auch bekannt, dass sie in ihren wöchentlichen Unterredungen mit den jeweiligen Regierungschefs die Staatsregie durch leise Winke begleitet.

"Brexit heißt Brexit": eine hohle Phrase

Der Premier und die Abgeordneten sind spätestens seit dem 18. Jahrhundert angehalten, selbständig zu handeln. Sie müssen frei nach dem Gewissen entscheiden. Nach dem Brexit-Plebiszit, das zutiefst verfassungswidrig ist, zwang man Abgeordnete jedoch, mit der Anerkennung des Ergebnisses gegen ihr Gewissen zu handeln. So kommt es, dass Theresa May, die in der EU bleiben wollte, nun zu einer Befürworterin des Austritts wurde. Wie viele andere handelt sie konsequent gegen ihre eigene Empfindung. Stellt man jedoch dieses innere Heiligtum infrage, so beginnt das ganze politische System zu wanken.

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Frau Mays Bekräftigung, sie wolle den Willen des Volkes vollziehen, bringt sie mit sich selbst in Konflikt, und das bedingt ihren autokratischen Stil. Daher rührt ihre berüchtigte Roboter-Art. In ihrer Rede zum konservativen Parteitag 2016 nannte sie den Brexit eine Revolution. Es war nur konsequent zu behaupten, der Austritt aus der EU würde England "für immer verändern". Die Welt war nicht mehr dieselbe.

Einzig die Königin bewahrt Ernst und Würde

Die Konservative propagierte eine eigentlich für den alten Sozialismus typische Vision, die "für alle" funktionieren soll. Ihre Parolen können aber nicht die sozialen Kontraste - zwischen Reich und Arm, Schwarz und Weiß, Nord und Süd - verwischen, welche sie bei ihrer Antrittsrede beschwor. Hatten jene Kontraste doch die Revolte erst verursacht.

Die Abkehr gefährdet das Gemeinwohl. Ohne realistische Ziele kann kein Staat bestehen. So kommt es auch beim Volk - spiegelbildlich wie bei den Abgeordneten - zu Akten der Gewalt und Intoleranz. Einzig die Königin versteht es, Ernst und Würde zu bewahren: Sie spricht aufrichtig von "düsteren" Zeiten.

Sie allein stellt noch eine Verbindung zwischen den Gegensätzen her, doch fast nur auf symbolische Weise. Sonst herrscht längst jenes Chaos, das Goethe als Kennzeichen einer Revolution erkannte. Frau Mays Mantra lautet "Brexit heißt Brexit". Doch man weiß immer noch nicht, was diese hohle Phrase bedeutet. Wir sind in Gefahr. Schon John Locke warnte, eine Regierung auf die "unstete Meinung" des Volkes aufzubauen, bedeute "Ruin".

Jeremy Adler, 69, ist Senior Research Fellow am King's College London und Schriftsteller. Er beschäftigt sich vor allem mit Komparatistik in den Bereichen Literatur, Naturwissenschaft, Kunst und Recht.

© SZ vom 04.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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