Folgen der Krise:Europa zerbröselt

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Ist die Luft schon raus? An der Krise könnte Europa zerbrechen - oder wachsen. (Foto: picture alliance / dpa)

Der Euro-Raum versinkt in Depression: Die EU befindet sich nicht in einer Finanz-, sondern in einer Führungskrise. Es fehlt an Vision, an Mut und Entschlusskraft. Diese Krise wird Europa entweder zerstören oder als politische Union erst wirklich erschaffen.

Ein Gastbeitrag von Joschka Fischer

Noch vor wenigen Wochen schien in der europäischen Finanzkrise das Schlimmste überstanden zu sein und wieder Ruhe einzukehren. Dieser Schein erwies sich binnen kurzer Zeit als gründlicher Irrtum. Schon ein kleineres Problem wie Zypern genügte, verbunden mit einer kaum für möglich gehaltenen Unfähigkeit der entscheidenden Akteure in EU, ECB und IMF, um aus einer Mücke einen Krisenelefanten entstehen zu lassen.

Die Märkte blieben zwar ruhig, aber die Zypernkrise machte durch ihre Folgen das ganze Ausmaß des politischen Desasters sichtbar, das sich durch die anhaltende Krise in der Euro-Zone entwickelt hat: Die EU zerbröselt in ihrem politischen Kern. Und diese Vertrauenskrise der Europäer in Europa ist weitaus gefährlicher als eine erneute Aufregung der Märkte, weil sie nicht durch eine technische Maßnahme der Zentralbank beruhigt werden kann.

Das alte politische System Europas gründete auf der Konkurrenz souveräner Staaten, auf Misstrauen, Machtrivalitäten und letztendlich auf Krieg und ging am 8. Mai 1945 unter. Das neue europäische System wurde auf Vertrauen, auf Solidarität, Recht und auf Kompromisse gebaut. Und genau diese Grundlagen, auf denen das neue Haus Europa steht, beginnen jetzt zu erodieren. Vertrauen weicht Misstrauen, Solidarität uralten Vorurteilen, ja neuem Hass zwischen dem armen Süden und dem reichen Norden, und Kompromisse erneut dem Diktat. Dabei spielt es keine Rolle, ob es tatsächlich so ist oder ob es nur so wahrgenommen wird. Die Wahrnehmung allein reicht. Im Zentrum dieses Auflösungsprozesses steht erneut Deutschland. Warum?

Weil Deutschland die mit Abstand stärkste wirtschaftliche Macht ist in der EU und der Währungsunion. Und Deutschland innerhalb der Euro-Zone eine Strategie zur Krisenbewältigung durchgesetzt hat, die zu ihm selbst zu Beginn des Jahrtausends gepasst hat - allerdings bei ganz anderen binnenwirtschaftlichen Voraussetzungen und einem fundamental anderen weltwirtschaftlichen Umfeld. Für die südeuropäischen Krisenstaaten erweist sich diese Mischung aus Austeritätspolitik und Strukturreformen als fatal, weil die entscheidende dritte Komponente fehlt: Schuldenentlastung und Wachstum.

Das Argument, man müsse Härte zeigen, hat sich erledigt

Diese deflationäre Abwärtsspirale, die zudem in einer Währung stattfindet, welche die Südeuropäer nicht kontrollieren, zerstört die europäischen Fundamente dort und - unter umgekehrten Vorzeichen - auch im wohlhabenden europäischen Norden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis in einem der großen europäischen Krisenländer eine Führung gewählt wird, die sich an die Austeritätsvorgaben nicht mehr halten wird - und dann? Schon heute versprechen die nationalen Regierungen mehr oder weniger offen in Wahlkämpfen ihren Bürgern Schutz vor Europa. Welch eine absurde und hoch gefährliche Verkehrung der realen Verhältnisse!

Deutschland hat sich bei der Strategie zur Krisenbewältigung weitgehend durchgesetzt: Sparen und Strukturreformen stehen an oberster Stelle. Und auch das Argument, man müsse Härte zeigen, sonst geschähe nichts wirklich im Süden, hat sich erledigt: Historisch fast einmalig hohe Arbeitslosigkeit (um die 50 Prozent bei den Jungen), massiver Einbruch des Wachstums, erfolgreicher Abbau des Primärdefizits (bei weiter wachsenden Altschulden), etc. Und dennoch oder gerade deswegen versinkt der gesamte Euroraum in Wachstumsschwäche, ja Depression.

Was also will Deutschland? Die Währungsunion zusammenhalten und so die EU erhalten? Oder aus Unentschiedenheit, mangelndem Mut und Weitsicht diesen Prozess der Erosion der europäischen Fundamente weiter voranschreiten lassen? Ein deutsches Europa, das niemals funktionieren kann? Oder ein europäisches Deutschland, zu dem der politischen Klasse Berlins mittlerweile ganz offensichtlich der Mut und die Entschlossenheit fehlen?

In dieser Krise zählt nicht die Absicht, sondern allein das Tun oder Unterlassen. Jüngst konnte man in der International Herald Tribune ein Zitat von Winston Churchill finden, das die Situation trifft: "Es ist nicht genug, dass wir das Beste tun; manchmal müssen wir tun, was erforderlich ist." Genau das ist das Gebot der Stunde in Europa und in der Währungsunion.

Der Preis des Überlebens der Währungsunion und damit des europäischen Projekts heißt weitere Vergemeinschaftung: Bankenunion, Fiskalunion, politische Union. Wer dies alles nicht will, weil er die gemeinsame Haftung, Transfers von Reich nach Arm und den Verlust nationaler Souveränität fürchtet, wird die Renationalisierung Europas und damit dessen Abgang von der Weltbühne im 21. Jahrhundert akzeptieren müssen. Ein Zwischending oder gar der Status quo wird nicht funktionieren. Und den Kopf in den Sand stecken auch nicht.

Durch die Hintertür lässt sich die Krise nicht bewältigen

Diese Krise wird Europa entweder zerstören oder als politische Union erst wirklich schaffen. Ohne eine solidarische Altschuldenlösung und ohne eine teilweise Vergemeinschaftung der Neuschulden wird der Euro nicht zu retten sein. Solche Schritte wiederum werden eine weitreichende Souveränitätsübertragung innerhalb der Eurozone unverzichtbar machen. Die eigentliche Krise der EU und der Währungsunion ist keine Finanzkrise, sondern eine politische, genauer, eine Führungskrise. Es mangelt in allen europäischen Hauptstädten an einer Vision, an Mut und Entschlusskraft, ganz besonders aber in Berlin. Dort nicht nur in der Regierung, sondern auch in der Opposition.

Man schimpft in den europäischen Mitgliedstaaten gerne über die mangelnde demokratische Legitimation der EU und legt doch gerade in den Wahlkämpfen der Mitgliedstaaten selbst die Grundlage dafür. Oder sind die Proeuropäer mittlerweile so verängstigt und mutlos geworden, dass sie das Feld lieber den antieuropäischen Populisten und Nationalisten überlassen? Sollte dies der Fall sein, so wäre es schlimm, denn diese Krise wird sich nicht durch die Hintertür technokratisch bewältigen lassen. Dazu reicht sie mittlerweile zu tief.

Deutschland bereitet sich auf einen Wahlkampf vor, bei dem, ähnlich wie während des französischen Präsidentschaftswahlkampfes, die europäische Krise keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen soll. Offensichtlich meinen Regierung und Opposition, es wäre besser, dem Volk erst hinterher die Wahrheit in vorsichtigen Dosen beizubringen. Es wäre allerdings eine Verhöhnung der Demokratie, wenn es so käme, und die Schicksalsfrage der europäischen Gegenwart nur eine nachrangige Rolle spielen würde. Freilich kann es auch ganz anders kommen, nämlich dann, wenn die Dynamik der Krise die Planungen der Parteien über den Haufen wirft. Genau dieser Fall ist nicht auszuschließen.

© SZ vom 02.05.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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