Prozess um Zugunglück in Sachsen-Anhalt:Unfall im Nebel

Es war eines der schwersten Zugunglücke in der Geschichte der Bundesrepublik: Im Januar 2011 kollidierte bei Hordorf in Sachsen-Anhalt ein Güterzug mit einem Regionalexpress. Zehn Menschen starben. Nun steht der Lokführer des Güterzuges vor Gericht - und muss vor allem eine Frage beantworten: Warum hat er gleich zwei Haltesignale übersehen?

Christiane Kohl, Magdeburg

Prozess um Zugunglück im Bahnhof Hordorf

Im Januar 2011 kollidierte im Bahnhof Hordorf in Sachsen-Anhalt ein Güterzug mit einem Regionalzug des Harz-Elbe-Express. Nun hat in Magdeburg der Prozess gegen den Lokführer des Güterzugs begonnen.

(Foto: dapd)

Titus S. hat kurz geschorene Haare, er trägt ein dunkles Jackett und einen schräg gestreiften Schlips. Als die Presse-Fotografen vor Beginn der Verhandlung noch im Gerichtssaal waren, um Bilder des Angeklagten zu schießen, hat sich der 41-jährige, eher klein gewachsene Mann hilflos mit dem Rücken an die Wand gelehnt und einen Aktendeckel vor das Gesicht gehalten. Jetzt, da im Prozess um das Zugunglück von Hordorf die Anklageschrift verlesen wird, sitzt Titus S. beinahe reglos auf seinem Stuhl. Nur seine Hände, die unablässig aneinander reiben, verraten, wie aufgeregt er in Wahrheit ist.

Der Mann ist Lokführer, ihm wird vorgeworfen, eines der schwersten Zugunglücke in der Geschichte der Bundesrepublik verursacht zu haben. Es geschah am Abend des 29. Januar 2011, als im Bahnhof des Örtchens Hordorf bei Halberstadt in Sachsen-Anhalt ein Güterzug frontal mit einer Personenbahn zusammenstieß. Titus S. steuerte die Güterzuglok, die sich wie ein Rammbock in den Personenzug bohrte.

Der Lokführer des Personenzugs sowie neun weitere Menschen starben, darunter ein zwölfjähriges Mädchen. Mehr als 20 Fahrgäste wurden teils schwer verletzt.

Nebelschwaden als Unglücksursache?

Staatsanwältin Martina Klein wirft Titus S. fahrlässige Tötung in zehn Fällen sowie fahrlässige Körperverletzung in 22 weiteren "zusammentreffenden Fällen" vor. Der Lokführer habe zwei Haltesignale übersehen. Mit der nötigen Aufmerksamkeit hätte der 41-jährige ihrer Ansicht nach den Zug noch rechtzeitig abbremsen und den Zusammenprall verhindern können.

Während des kurzen Vortrags der Staatsanwältin kämpft Titus S. immer wieder mit den Tränen. Er lässt seinen Anwalt eine Erklärung verlesen, in welcher er den Angehörigen der Toten sein tief empfundenes Beileid ausspricht und um Verzeihung bittet für das, was an jenem Abend in Hordorf geschah.

Auch zu den beiden Haltesignalen, die Titus S. überfahren hatte, äußert sich der Angeklagte: Er habe sowohl das gelbe Vorwarnhaltesignal übersehen, das einen knappen Kilometer vor dem Bahnhof blinkte, als auch das Haltesignal kurz vor der Station. Warum, das sei ihm unerklärlich, er wisse nicht, "ob es die dichten Nebelschwaden waren."

In der Tat herrschte dichter Nebel an jenem Winterabend. Titus S. war für die Verkehrsbetriebe Peine-Salzgitter (VPS) unterwegs, einen privaten Verkehrsdienstleister, der Produktionsmaterial für die Salzgitter AG transportiert. In Rübeland im Harz hatte er Kalk geladen, 32 Waggons voll. Insgesamt war der Güterzug an die 2700 Tonnen schwer, zwei blau lackierte Loks zogen das Gefährt.

Unterdessen war in Magdeburg nördlich von Hordorf gegen 21.30 Uhr ein Triebwagen mit zwei Personenwaggons der Regionalbahn Harz-Elbe-Express (HEX) in Richtung Halberstadt gestartet, der großenteils aus Kunststoffteilen gefertigte Zug mit dem gelblackierten Bug war nach dem Komponisten Georg Friedrich Händel benannt. Im Zug saßen etwa 50 Fahrgäste.

"Dann gab es einen großen Knall"

Etwa acht Kilometer südlich des Bahnhofs Hordorf, wo sich die Fahrstrecke zu einer eingleisigen Linie verengt, bemerkte Lokführer Titus S., dass sein Zug zu schnell unterwegs gewesen sei: "Etwa fünf km/h" habe er über die auf dieser Bahnstrecke erlaubten 100 Stundenkilometer hinaus drauf gehabt. Titus S. leitete eine Bremsung ein, der Zug kam auf freier Strecke zum Stillstand.

Nach kurzem Halt setzte der Lokführer seine Fahrt fort und fuhr wenig später an den beiden Warnsignalen vorbei, die auf Halt gestellt waren und entsprechend leuchteten, wie Zeugen später bekundeten. Doch erst das "optische Notrufsignal" auf dem Display seiner Steuerungskanzel und das akustische Signal in der Lokkabine hatten Titus S. alarmiert. Daraufhin will der Lokführer "mit dem rechten Arm gegen den Schnellbremshebel geschlagen" haben.

Bereits im nächsten Moment, so liest sein Anwalt im Gerichtssaal vor, habe der Lokführer jedoch bereits die Lichter des entgegenkommenden Zuges vor sich gesehen, "dann gab es einen großen Knall". Das war um 22.24 Uhr, das weitere Geschehen hat der Lokführer "nur noch schemenhaft in Erinnerung".

Die Streckekannte der Eisenbahner aus dem FF

Nach dem Unglück war Titus S. wie benommen an der Unfallstelle herumgeirrt, wie sich Zeugen später erinnerten. "Hoffentlich keine Toten", habe er immer wieder vor sich hin gemurmelt. Im Gerichtssaal lässt der Lokführer seinen Anwalt nun erklären, dass er stets "ein begeisterter Eisenbahner" gewesen sei. Insgesamt 18 Jahre lang war er zuvor bereits als Lokführer unterwegs gewesen, die Strecke zwischen Rübeland und Peine kannte der in Bonn gebürtige Eisenbahner aus dem FF, in dem halben Jahr vor dem Unfall hatte er sie allein 17 Mal passiert.

Was war also zuvor geschehen? Bei der Gewerkschaft der Lokführer schließt man nicht aus, dass Titus S., der wenige Tage vor dem Unfall seinen 40. Geburtstag gefeiert hatte, vielleicht in einen Sekundenschlaf gefallen war.

Nach dem Unglück hatte sich der Lokführer es Güterzuges selbst aus der zerstörten Lok befreien können, die nach dem Aufprall noch knapp 300 Meter weiter rollte. Für den Führer der Regionalbahn, seine Zugbegleiterin und acht Fahrgäste im Vorderteil des Personenzuges kam jede Hilfe zu spät. Helfer konnten nur noch ihre Leichen bergen. Heute steht ein Gedenkstein an der Unfallstelle.

Das Unglück hatte erhebliche Diskussionen über die Verkehrssicherheit der Bahn ausgelöst. Auf der eingleisigen Strecke bei Hordorf war keine automatische Bremsvorrichtung installiert. Mit der sogenannten "Punktförmigen Zugbeeinflussung" (PZB) wird automatisch eine Bremsung eingeleitet, wenn ein Zugführer ein Signal übersieht. Auf Strecken, die für höhere Geschwindigkeiten ausgelegt sind, sind solche Bremsvorrichtungen Vorschrift. Für die Linie bei Hordorf war eine Modernisierung geplant, allerdings sollte sie erst Monate nach dem Unglück installiert werden.

Laut Eisenbahnunfalluntersuchungsstelle des Bundes hätte der Unfall mit dem PZB-Bremssystem verhindert werden können.

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