Prozess um tote Elfjährige:"Chantal war nicht verwahrlost"

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Vermummt betraten Chantals Pflegeeltern das Gericht. Dass sie Reue gezeigt hatten, milderte das Urteil. (Foto: Christian Charisius/dpa)
  • Die Pflegeeltern der elfjährigen Chantal, die starb, weil sie versehentlich Methadon schluckte, werden zu Bewährungsstrafen verurteilt.
  • Sie seien gestraft genug, urteilt der Richter - richtet aber deutliche Worte an das Paar.
  • Richter und Staatsanwaltschaft diskutieren über die Zustände in der Wohnung der Familie ebenso wie über die Rolle des Jugendamtes.

Von Hannah Beitzer, Hamburg

Eine Drogenabhängige, die sich nicht um ihr Kind kümmern konnte, das dann zu drogenabhängigen Pflegeeltern kam; ein Arzt, der zu viel Vertrauen hatte und seinen Patienten Methadon mit nach Hause gab; und Pflegeeltern, die fahrlässig mit der Ersatzdroge umgingen. All das hat nach Überzeugung des Landgerichts Hamburg zum Tod der elfjährigen Chantal geführt, die vor drei Jahren an einer Methadon-Vergiftung gestorben war. Deswegen hat das Gericht nun die Pflegeeltern Sylvia L. und Wolfgang A. der fahrlässigen Tötung schuldig gesprochen.

Der Pflegevater erhielt ein Jahr Haft auf Bewährung, die Pflegemutter acht Monate auf Bewährung. Damit blieb das Gericht unter der Forderung der Staatsanwaltschaft, die für den Vater eine zweieinhalbjährige Haftstrafe und für die Mutter eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verlangt hatte. Beide Verteidiger hatten auf Freispruch plädiert, sie wollen nun Revision einlegen.

Das Mädchen hielt Methadon für ein Mittel gegen Übelkeit

Chantal war im Januar 2012 an einer Methadon-Vergiftung gestorben. Das Mädchen hatte die Ersatzdroge nach Auffassung des Gerichts in der Wohnung der Pflegeeltern gefunden und abends versehentlich eingenommen, weil es glaubte, es handele sich um ein Mittel gegen Übelkeit. Am nächsten Tag war die Elfjährige tot.

Die Annahme der Verteidigung, Chantal könnte sich das Methadon anderswo besorgt haben, zum Beispiel bei ihrem drogensüchtigen leiblichen Vater, verwarf Richter Rüdiger Göbel. In der Wohnung des Vaters und in seinem Blut sei kein Methadon gefunden worden. Anders als bei Sylvia L. und Wolfgang A., die die Ersatzdroge in Form von Methaddict-Tabletten einnahmen. Dass beide beteuerten, das Methadon sei sicher in einer Garage weggesperrt gewesen, hielt das Gericht für unglaubwürdig. "Beide Angeklagte kannten als langjährige Drogenabhängige die Gefährlichkeit dieser Tabletten", erklärte der Richter. Deswegen sei es ihnen vorzuwerfen, dass sie offensichtlich nicht sicher verwahrt gewesen seien.

Prozess in Hamburg
:Richter verurteilen Chantals Pflegeeltern zu Bewährungsstrafen

Der Tod der elfjährigen Chantal sorgte bundesweit für Entsetzen. Das Mädchen starb, weil es in der Wohnung seiner drogensüchtigen Pflegeeltern versehentlich Methadon schluckte. Jetzt ist das Paar schuldig gesprochen worden.

Von Hannah Beitzer

"Hören Sie auf, sich selbst zu bemitleiden"

Dass die Pflegeeltern mit einer Bewährungsstrafe davonkamen, begründete das Gericht auch damit, dass sie schon genug gestraft seien: Ihre Familie sei auseinandergebrochen, weil ihnen alle eigenen Kinder und Pflegekinder genommen wurden, sie hätten ihre Arbeit verloren und die Medienberichterstattung über sich ergehen lassen müssen. Außerdem hätten sie Reue über den Tod Chantals gezeigt - wenngleich nicht ihre Schuld eingestanden. Er richtete zum Schluss des Verfahrens deutliche Worte an die Pflegeeltern: "Hören Sie auf, sich selbst zu bemitleiden."

Die Pflegemutter war am Abend vor Chantals Tod nicht zu Hause und riet Chantal, die unter Übelkeit litt, per Telefon zur Einnahme eines Medikaments. Der Pflegevater kam gegen 23 Uhr und beauftragte die jüngste Pflegetochter, einen Tee zu kochen. Als das Kind am nächsten Tag bewusstlos im Bett lag, alarmierte er keinen Arzt, sondern ging zur Arbeit. Ein verhängnisvoller Fehler, zu diesem Zeitpunkt hätte Chantal noch gerettet werden können.

Konsequenzen aus Chantals Tod

Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrem Plädoyer die Zustände in der Wohnung, in der neben den beiden leiblichen Kindern ein weiteres Pflegekind und zwei Hunde lebten, als bedenklich bezeichnet. Chantal habe sich ein 1,40 Meter breites Bett mit ihrer jüngeren Pflegeschwester geteilt. Der Herd sei nicht angeschlossen gewesen, der Kühlschrank habe nicht funktioniert.

Sozialarbeiter und Lehrer von Chantal hatten jedoch übereinstimmend berichtet, Chantal sei gut erzogen und ordentlich gewesen. Auch Richter Göbel widersprach der Staatsanwaltschaft: "Chantal war nicht verwahrlost." Er nahm insbesondere das Jugendamt gegen die Vorwürfe der Anklage in Schutz, nicht rechtzeitig eingegriffen zu haben, als es Hinweise auf die Drogensucht der Pflegeeltern gegeben habe.

Immerhin hatte Chantals Tod Konsequenzen, die über die Angeklagten hinaus gingen. Sämtliche Pflegeeltern in Hamburg wurden überprüft. Und: Wer ein Pflegekind aufnehmen will, muss ein Gesundheitszeugnis mit Drogentest vorlegen.

© SZ vom 06.02.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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