Oscar Pistorius vor Gericht:Tägliche Furcht

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An seinem ersten Tag im Zeugenstand berichtet Oscar Pistorius, wie oft er in der Vergangenheit Opfer und Zeuge von Gewaltverbrechen wurde. Dabei wird deutlich: In diesem Prozess ist noch lange nicht alles gesagt.

Von Lena Jakat

Die Frage ist fast schon rhetorisch. "Haben Sie schon einmal Erfahrung mit Gewalt gemacht?" In kaum einen anderen Land der Welt sind Mord, Raubüberfall und Vergewaltigungen weiter verbreitet als in Südafrika. Es gibt Straßenschilder, die Autofahrer vor Stellen warnen, an denen es besonders häufig zu Entführungen kommt. Täglich werden in Südafrika durschnittlich 50 Menschen getötet. Dementsprechend antwortet auch der Befragte: "Ich glaube, Sir, jeder in Südafrika hat schon einmal Erfahrung mit Gewalt gemacht."

Der Mann, der in höflichem, leisem Ton diese Antwort gibt, trägt eine schmale schwarze Krawatte zu weißem Hemd und schwarzem Anzug, wie jeden Tag im Gerichtssaal. Das Gewaltverbrechen, um das es hier geht, wird ihm angelastet. Oscar Pistorius, 27 Jahre alt, beidseitig amputierter Profi-Sportler. Die ersten Wochen des Prozesses hat er von der Anklagebank aus verfolgt, oft mit gesenktem Kopf, sich Notizen machend oder in einem Gebetbüchlein blätternd. Oft weinend, würgend angesichts der Ausführungen. An diesem Montag hat er zum ersten Mal selbst im Zeugenstand Platz genommen.

Offene Fragen an Pistorius
:Der einzige Zeuge

War es wirklich Notwehr? Wie war die Beziehung zu Reeva Steenkamp? Seit Montag äußert sich Oscar Pistorius erstmals selbst zum Tod seiner Freundin, die er erschossen hat. Es gibt etliche Fragen, die nur er beantworten kann.

Von Lena Jakat

Pistorius spricht mit leiser, brüchiger Stimme, Richterin Thokozile Masipa muss ihn auffordern, lauter zu sprechen. Mehrmals beginnt der Angeklagte zu weinen. In seinen ersten Ausführungen kommt es für Pistorius darauf an, seine Glaubwürdigkeit in dem zentralen Punkt dieses Verfahrens zu belegen: dass er seine Freundin Reeva Steenkamp versehentlich durch die geschlossene Toilettentür seines Hauses hindurch erschossen hat. Weil er glaubte, sie sei ein Einbrecher. Weil er sie, die er schlafend im Bett wähnte, beschützen wollte. Weil er um ihres und - zumal er keine Prothesen trug - um sein Leben fürchtete.

Weil diese Variante der Geschehnisse auf den ersten Blick nicht sonderlich plausibel erscheint - angesichts der drastischen Reaktion (Pistorius gab vier Schüsse ab, seine Waffe war mit äußerst gefährlicher Munition geladen), aber auch angesichts der Umstände (Wie konnte er versäumen, dass das Bett leer war?) - ist es für die Verteidigung entscheidend, die Glaubwürdigkeit des Angeklagten zu untermauern. Indem sie deutlich macht, dass er Angst hatte, sich eigentlich ständig bedroht fühlte. Derart bedroht, dass eine so extreme Reaktion plausibel erscheint. Das deutlich zu machen, dafür will Verteidiger Barry Roux Pistorius die Chance geben, als er fragt: "Haben Sie schon einmal Erfahrung mit Gewalt gemacht?".

Das hat er. Und zwar einschlägig. Nach Beispielen für "nicht alltägliche Vorkommnisse" gefragt, schildert Pistorius detailreich diverse Vorfälle. Wie die Familie einmal ihr Ferienhaus völlig zerstört vorfand: Der Safe aus der Wand gebrochen, die Sofas aufgeschlitzt. "Was nicht mitgenommen war, war zerstört", erinnert sich der Sportler. Sein Vater sei zweimal in seinem Wagen entführt worden, sein Bruder ebenfalls einmal. Der Angeklagte berichtet, wie 2005 in sein Haus eingebrochen, wie er tagelang verfolgt wurde, wie ihm einmal spätnachts ein Wagen auf dem Heimweg folgte, mit dem er sich eine Verfolgungsjagd lieferte.

Als er auf ein Verbrechen zu sprechen kommt, dass jemand anderem angetan wurde, gerät der 27-Jährige ins Stocken. Er schildert, wie er einmal dazukam, als ein Taxifahrer angegriffen wurde: Männer hätten die Scheiben des Wagens eingeworfen, den Fahrer mit Steinen geschlagen. Er habe seine Waffe auf die Angreifer gerichtet, diese seien geflohen. "Da war überall Blut." Pistorius' Stimme stockt.

Waffe unter Mutters Kopfkissen

Früher am Montag hatte der Angeklagte berichtet, dass seine Mutter unter ihrem Kopfkissen stets eine Waffe versteckt hatte. "Wir wuchsen in einer Familie auf, in der mein Vater nur selten da war, oftmals bekam sie nachts Angst und rief die Polizei", sagt er aus. Pistorius' Ex-Freundin Samantha Taylor hatte früher im Prozess ausgesagt, dass auch der Angeklagte stets eine Waffe bei sich trug, der Waffenhändler Sean Rens hatte ihn als Waffennarr bezeichnet. In seiner eidesstattlichen Erklärung vom vergangenen Februar erklärte Pistorius, dass er die Tatwaffe unter seinem Bett verwahrte.

Obgleich Verteidiger Roux mit seinem Mandanten ungleich sanfter umgeht als mit den Zeugen der Anklage, die er häufig ohne jede Nachsicht ins Kreuzverhör nahm, scheint den Angeklagten seine Aussage stark mitzunehmen. Er habe nicht geschlafen vergangene Nacht, sagt er. "Mir gehen sehr viele Dinge durch den Kopf." Er sei erschöpft. "Er sieht erschöpft aus", konstatiert auch Richterin Masipa, bevor sie Pistorius auf Roux' Bitten vorzeitig um kurz vor 15 Uhr erlöst und den Prozess bis zum Dienstag unterbricht. Staatsanwalt Gerrie Nel hatte der frühen Unterbrechung zuvor zugestimmt - "Solange das jetzt nicht jeden Tag vorkommt". Wer den Angeklagten bei den bisherigen Zeugenaussagen beobachtet hat, weiß, dass diese Befürchtung durchaus berechtigt ist. Kaum ist der Verhandlungstag beendet, stürzen Pistorius' Geschwister Aimee und Carl auf ihn zu, trösten ihn. Auch sein Psychologe ist sofort an seiner Seite.

Am Dienstag wird Pistorius in den Zeugenstand zurückkehren und sich den Fragen der Anklage stellen müssen. Am heutigen Montag hat er bereits deutlich gemacht, dass in diesem Prozess - mögen auch viele Aussagen gegen ihn stehen - noch lange nicht alles gesagt ist. Und dass am Ende womöglich mehrere glaubhafte Antworten gibt auf die eine, alles entscheidende Frage: Warum musste Reeva Steenkamp sterben?

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