Die US-Metropole und der Hurrikan "Irene":Die größte Gefahr für New York - der New Yorker selbst

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Die Bedrohung muss schon gewaltig sein, damit sich die chronisch undisziplinierten und ungehorsamen New Yorker an Vorschriften halten. Die Behörden hoffen, dass sie sich für den großen Tropensturm "Irene" wappnen - denn wer der angeordneten Evakuierung nicht Folge leistet, dem kann im Ernstfall nicht mehr geholfen werden.

Christoph Bartmann, New York

Beim Blick aus dem 11. Stockwerk des Holiday Inn SoHo am Samstagabend bietet sich ein erstaunlicher Anblick: Das öffentliche Leben in New York ist vollständig zum Erliegen gekommen. Kein Mensch ist auf der sonst immerfort geschäftigen Lafayette Street zu sehen, die U-Bahn, die sonst dieses Gebäude in regelmäßigen Abständen erschüttert, hat Punkt 12 Uhr den Betrieb eingestellt.

Apokalyptisch: Ein leergefegter Times Square in New York, kurz bevor der Wirbelsturm "Irene" die Millionenmetropole erreicht. (Foto: AP)

Es fahren auch keine Autos mehr, ja nicht einmal Taxis, ohne die sich New York doch niemand vorstellen kann. Die ganze Taxiflotte kümmert sich, wie berichtet wird, derzeit um die Anwohner der tiefer gelegenen Stadtviertel, die evakuiert werden - "mandatory", wie das Wort der Stunde heisst, also zwingend. Wobei zwingend nicht heißt, das man sein Haus oder seine Wohnung verlassen muss; es heisst nur, das einem im Ernstfall nicht mehr geholfen wird.

Alle wollen schnell nach Hause, sofern sie es nicht schon sind, so dass sich New York dem Spaziergänger als wahrscheinlich ausgestorbenste Metropole der Welt darbietet. Der Ausnahmezustand an diesem Wochenende ist historisch. Eine komplette und so lang andauernde Stilllegung des öffentlichen Transports hat es noch nicht gegeben. Jetzt könnte man, wie noch nie, New York zu Fuß erkunden, aber leider stürmt und regnet es schon, und ganz ohne Cafés und Läden und vor allem ohne Mitmenschen hat das Ganze etwas stark Gespenstisches.

In langen Schlangen warteten die Anwohner der vornehmen Appartmentblocks am Battery Park gegen Mittag auf Taxis, die sie an einen sicheren Ort verfrachten würden. Wer bleibt, muss damit leben, dass seit dem Nachmittag auch die Aufzüge außer Betrieb sind. Im Vorteil ist, wer sich für die nächsten Tage mit Lebensmitteln eingedeckt und am besten auch schon vorgekocht hat. Denn man weiß nicht, wie lange es Strom und Gas geben wird - wenn das große Desaster, das sich New York mit der Geschwindigkeit einer S-Bahn nähert, erst einmal eingetreten ist. Wenn.

Gäbe es Hinweise darauf, dass alles nur halb so schlimm wird, würden Medien und Verwaltung mit dieser Nachricht sicher trotzdem nicht herausrücken: Die Bedrohungslage muss massiv sein, damit sich New Yorker an Vorschriften halten. Das größte Problem für New York, sagt einer der unzähligen Experten, die seit Tagen bei CNN auf Sendung sind, sei der chronisch undisziplinierte und ungehorsame New Yorker selbst.

Jetzt gibt es für New Yorker nur einen guten Ort

Die Stimmung in SoHo ist merkwürdig. Es ist, als hätte man hier plötzlich den samstäglichen 12-Uhr-Ladenschluss eingeführt, und alle Einwohner würden sich danach auf Tauchstation begeben, um Montag früh wieder aufzutauchen. Was in der Zwischenzeit passiert, ist ungewiss. Vielleicht passiert auch gar nichts. Keiner scheint sich zu fürchten, aber die Meisten folgen diesmal doch den behördlichen Weisungen.

Wer nicht schon am Freitag Wasserflaschen, Konserven und Taschenlampen für den Ernstfall besorgt hat, hat ein Problem. Die vielen kleinen und mittleren Läden, von denen es in New York mehr gibt als irgendwo sonst, machen wegen des mittäglichen Stopps aller öffentlichen Verkehrsmittel auch schon früher zu - und wenn sie noch offen halten, gibt es nicht mehr viel zu kaufen.

Nur bei McNally Jackson, dem unabhängigen Buchhändler in der Prince Street, ist es richtig voll. Jetzt oder nie ist der richtige Moment, sich mit ein paar Neuanschaffungen aufs Sofa zurückzuziehen. New York, die ewig lärmende und lockende Stadt, macht Pause. Es gibt keine Konzerte, kein Theater, die Kinos sind zu, die Museen und Restaurants sind geschlossen, die New Yorker können mit keinem Verkehrsmittel außer dem eigenen Auto von Punkt A nach Punkt B gelangen. Die Frage ist nur, wohin wir alle fahren sollten, wenn demnächst auch die Brücken und Tunnel geschlossen werden.

Es gibt, das wird auch New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg in seinen vielen TV-Ansprachen nicht müde zu betonen, für einen guten und vernünftigen Bürger jetzt nur einen Ort: die eigenen vier Wände, sofern man nicht zu den 375.000 Einwohnern gehört, die evakuiert wurden. Von diesen Katastrophen - oder vielleicht auch nur Katastrophenerwartungstagen - wird man später seinen Kindern erzählen, so wie einem die Eltern vom großen Stromausfall von 1965 erzählt haben. Hurrikan Irene, der Ausdehnung nach größer als Europa, wie CNN nicht ohne Stolz meldet, hat das Zeug zum ganz großen Ereignis.

Die New Yorker Untergangsphantasien scheinen sich zu erfüllen

Dabei hat das Wetter in den letzten sechs Wochen ohnehin schon auf eine nicht da gewesene Weise verrückt gespielt. Erst sorgte Mitte Juli eine Hitzeglocke über der Ostküste, in der erfinderischen Sprache der Wettermoderatoren "heat dome" genannt, für Temperaturen weit über 40 Grad. Dann ertrank New York vor zwei Wochen in den schwersten Niederschlägen seit Jahrzehnten.

Am letzten Mittwoch dann bebte 30 Sekunden lang und deutlich vernehmbar die Erde, das Epizentrum lag in einem Ort namens Mineral, Virginia. Nach kurzer Evakuierung durften wir an unsere Arbeitsplätze zurückkehren. Wer Pech hat, wird also in dieser Woche zwei Mal evakuiert. Irgendwie scheinen sich in diesen Tagen die alten, populären New Yorker Katastrophen- und Untergangsphantasien zu erfüllen: die neue Klima-Apokalypse nach Art von "The Day after Tomorrow".

Gespannt warten wir darauf, wie es weiter geht. Deshalb schauen wir jetzt bei Tag und Nacht CNN und sind uns sicher, dass auch die meisten anderen New Yorker in ihrer häuslichen Zwangspause die ganze Zeit Nachrichtenkanäle schauen.

Tropensturm "Irene"
:Menschenleere Metropole

Tropensturm "Irene" ist mit schweren Regenschauern die US-Ostküste heraufgezogen und in New York angekommen. Mindestens 15 Menschen kamen ums Leben. Das öffentliche Leben in der Großstadt kommt zum Erliegen. Nicht ganz.

In Bildern.

Bei Irene darf nichts schief gehen

Das übrige Weltgeschehen ist vom Bildschirm verschwunden. 24 Stunden pro Tag beobachtet CNN den großen Sturm. Dies ist die Stunde der Star-Moderatoren, allen voran Anderson Cooper, der seit Hurrikan Katrina in New Orleans eine Legende ist - auch, weil er damals hochemotional die Versäumnisse der Politik im Fernsehen anklagte. Diesmal darf die Politik nicht wieder etwas versäumen, auch so lässt sich der hohe Aufwand um Irene erklären. Bei Irene darf nichts schief gehen, wie schlimm Irene auch wird. Der Hurrikan mag Stärke 1,2 oder 3 haben, die öffentlichen Anstrengungen zur Krisenbewältigung müssen in jedem Fall die Stärke 1 haben.

Irene eignet sich perfekt als Medienereignis. Ein Hurrikan hat einen langen Vorlauf, den man mit Prognosen und Expertisen füllen kann. Das Ereignis bewegt sich langsam die Küste entlang, und mit ihm bewegen sich die Zonen, in denen das Unglück jeweils seinen Höhepunkt erreicht. Anderswo werden dann noch Vorkehrungen getroffen oder es wird schon wieder aufgeräumt. Auch darüber lässt sich gut berichten.

Die besondere Bösartigkeit des Hurrikans, sagt Chad Mayers, liegt nicht in seiner Intensität, sondern in seiner Ausdauer. Nun haben wir den ganzen Tag ferngesehen und haben, erst in South Carolina, dann in North Carolina, später in Maryland und aktuell auch schon in New Jersey, Reporter im Regen beobachtet. Manchmal haben sie Schwierigkeiten, sich auf den Füßen zu halten und manchmal zurrt der Wind gewaltig an ihrem Gummizeug. Aber es scheint zu diesem Zeitpunkt in New York noch nichts wirklich Schlimmes passiert zu sein; das geben die Reporter selbst zu. Schon regt sich erste Kritik, Bürgermeister Bloomberg hätte die New Yorker Subway zu früh geschlossen.

Warten wir es ab. Außer Warten können wir sowieso nichts tun.

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