Ehrenamt:Im Namen der Gerechtigkeit

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Ihr Sohn brachte Claudia Eichenseher auf die Idee, Schöffin zu werden. Die Tölzerin sagt, sie habe die Entscheidung nie bereut. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Seit 2014 arbeitet Claudia Eichenseher als Schöffin am Wolfratshauser Amtsgericht. Manche Fälle treiben die Tölzerin wochenlang um.

Von Julian Erbersdobler, Bad Tölz-Wolfratshausen

Vor vier Jahren beginnt alles mit einer 40 Zentimeter langen Klinge. Claudia Eichenseher sitzt als Schöffin im Wolfratshauser Amtsgericht und hört gleich an ihrem ersten Tag die Geschichte vom Machetenmann. Die geht so: Im August 2013 hält ein Betrunkener einer Bekannten in Geretsried eine Machete unter die Nase. "Gib mir die Kohle, sonst schlag ich Dir den Schädel runter", droht er. Der Mann war vorher in zwei Biergärten und hat mehr als zwei Promille im Blut. Sie schuldet ihm offenbar 700 Euro, Geld für einen gemeinsamen Namibia-Urlaub. Bevor die Lage eskaliert, schwingt er sich auf sein Rad und sucht das Weite.

Wenn Claudia Eichenseher, 57, drei Kinder, fünf Enkel, an ihren ersten Schöffen-Einsatz zurückdenkt, muss sie schmunzeln. "Mir tat der Angeklagte fast ein bisschen leid", sagt sie. Er habe im Gerichtssaal sehr bodenständig gewirkt. Wie jemand, der sich nichts zu Schulden kommen lässt. Mittlerweile hat Eichenseher schon einige Verhandlungen erlebt. Seit 2014 sitzt die Büroleiterin der bayerischen Landesgeschäftsstelle der Bergwacht ungefähr einmal im Monat ehrenamtlich als Hauptschöffin im Gericht. Ihr damals 22-jähriger Sohn, selbst Jurastudent, brachte sie auf die Idee. "Mama, das wär doch was für dich!" Obwohl ein Arbeitskollege, der auch Schöffe war, ihr eher davon abriet, bewarb sich Eichenseher. Mit Erfolg.

In Bayern gibt es derzeit rund 4500 Schöffen, darunter etwas mehr Männer als Frauen. Die Amtszeit beträgt deutschlandweit fünf Jahre, Schöffen werden in der Strafjustiz bei den Straf- und Jugendkammern der Landgerichte sowie bei den Schöffen- und Jugendgerichten an den Amtsgerichten eingesetzt. In den Hauptverhandlungen üben sie das Richteramt in vollem Umfang und mit gleichem Stimmrecht aus wie die Berufsrichter. Sie entscheiden mit den Berufsrichtern über die Schuld- und Straffrage. Wer Schöffe werden möchte, muss sich wie Claudia Eichenseher in der Wohnsitzgemeinde bewerben. Wer auf die Vorschlagslisten kommt, entscheiden die Gemeindevertretungen. Weil Eichenseher auch in den kommenden fünf Jahren weiter als Schöffin arbeiten will, hat sie sich gerade wieder beworben. Es wäre ihre zweite Amtszeit.

Manchmal blickt die Schöffin vor Gericht in Abgründe, die nur schwer zu ertragen sind. Sachlichkeit hilft, sagt sie.

Besonders schätzt die Tölzerin, dass sie aus jedem Fall etwas mitnehmen kann. Manchmal blickt sie im Gericht aber auch in Abgründe, die nur schwer zu ertragen sind. Sachlichkeit hilft, sagt sie. Aber sie erzählt auch, wie unfassbar anstrengend das Zuhören sein kann. Wenn jedes Wort der Angeklagten oder der Zeugen wichtig werden könnte, jede Formulierung, jeder Zusammenhang, jede Uhrzeit. "Man darf keine Sekunde abschalten und gedanklich abdriften." Manchmal sitzt sie bis um 17 Uhr im Gerichtssaal. Manchmal ist das Verfahren auch schon wieder zu Ende, bevor es richtig begonnen hat. Manchmal werden Übersetzer benötigt, weil Angeklagte oder Zeugen die Sprache nicht verstehen. Es gibt auch immer wieder Fälle, die Claudia Eichenseher mit nach Hause nimmt. Geschichten, die sie auch nach dem Urteil umtreiben. Oft geht es da erst richtig los: "Manchmal bin ich hundertprozentig sicher, dass jemand lügt. Man kann es aber nicht nachweisen. Das ist dann schon frustrierend. Aber was willst du da machen?" Einmal saß plötzlich einer mit Handschellen im Gerichtssaal, den sie kannte: ein Kindergartenfreund ihres Sohnes. Der Kumpel war als Zeuge geladen und saß zu dem Zeitpunkt selbst schon im Gefängnis. Im Prozess ging es um Rauschgift im großen Stil, um einen umgebauten Sprinter voller Drogen, um Fahrten nach Holland. "Ich habe dann sofort meinen Sohn angerufen und ihm davon erzählt", erinnert sich Claudia Eichenseher.

In einem anderen Fall mussten sich zwei Ärzte verantworten. Ihre Masche: Das Ehepaar rechnete einige ihrer Patienten doppelt ab und kassierte insgesamt fast 300 000 Euro von der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns. "Das war für mich unvorstellbar, dass man so betrügen kann", sagt Eichenseher. Die Schöffin war selbst einmal als Zeugin vor Gericht geladen. Das ist fast 40 Jahre her. Damals hatte sie einen Autounfall beobachtet. Sonst gibt es in ihrem Leben nur wenige Berührungspunkte mit der Justiz, sagt sie und lacht. Und da ist sie in guter Gesellschaft. In Deutschland gibt es mehr als 600 Amtsgerichte. Aber nur einen Bruchteil an Menschen, die schon mal in einem waren. Anfang der 2000er liefen noch sechs unterschiedliche Gerichtsshows im Privatfernsehen. Heute muss man lange zappen, um überhaupt noch eine zu finden.

Stattdessen gibt es diesen schonungslos realen Fall, der seit Mai 2013 läuft: den NSU-Prozess um Beate Zschäpe. Claudia Eichenseher hat großen Respekt vor allen beteiligten Richtern und Anwälten. "Aber ich möchte da nicht drinsitzen", sagt sie.

Am Wolfratshauser Amtsgericht mag die Tölzerin besonders die Atmosphäre. "Ich fahre gerne hin. Auch wegen des lockeren Umgangstons mit dem Richter Berger."

© SZ vom 28.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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