München:Liebeswut und Lebenslust

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Im Westender Stragula treffen sich einmal im Monat Novizen des öffentlichen Vortrags, Profimusiker und Rampensäue beim "Open-Mic": 15 Minuten lang bespielen sie die Bühne - mal laut, mal leise

Von Andrea Schlaier, Westend

Fünfzehn Minuten Aufmerksamkeit, das ist schon was. Weltberühmt, wie es Andy Warhol 1968 prognostiziert hat, wird man damit nicht. Hier nicht. Wer in dieser Welt schnellen Ruhm ernten will, versucht's besser bei einem der Streaming-Dienste. Hier, wo die Bergmann- auf die Ridlerstraße stößt, ist Old School. In einer Kneipe, die den ausgeblichenen Namen von Meterware aus Bitumenpappe trägt: Stragula. Untertitel: "Realwirtschaft." Ein großer Wirtsraum mit holzgetäfelten Wänden und puristisch gestrafftem Innenleben über dem in der zweiten Januarwoche noch ein üppiger Adventskranz aus Thujengrün schaukelt. Drunter ist die Hütte voll, an diesem Montagabend und sämtliche Stühle und Blicke sind streng ausgerichtet wie die Nadel eines Kompasses: nach vorn, wo ein Podest eine breite Bühne simuliert, auf die nacheinander sechs Combos steigen. Jede darf in drei Nummern Musik, Kabarett oder sonst was zum Vortrag bringen. 15 Minuten pro Gig. Novizen des öffentlichen Vortrags, lampenfiebrige Durchstarter, Profimusiker und Rampensäue, das Mikro ist für alle auf.

"Variosity" schiebt sich nach vorne, Gitarrist plus Sängerin in Jeans und Pulli. Nicht lange labern, Mikro an die Lippen und los geht's. Die Unbekannte in Schwarz hat sich grade die Nervosität mit entschiedener Liebeswut-Lyrik aus dem Leib gepresst, als bei den ersten Klängen des nächsten Songs die Tür zur Wirtsküche aufspringt. In der Pfanne des Kochs zischen die Flammen vernehmbar bis zur Decke, kulinarischer Soundfloor für die jetzt rioreisernde Frontfrau: "Für Dich und immer für Dich/ egal wie Du mich nennst/egal wo Du heut pennst. . . ". Tür zu.

Ein Mann mit rotem Kapuzenpulli, stattlichen Koteletten und schütterer Tolle springt nach jeder Gruppe auf die Bühne, stöpselt um, klopft auf Schultern und kündigt kurz an, wer als nächstes dran ist. Titus Waldenfels wurde von dieser Zeitung mal als "unverzichtbares Arbeitstier" der hiesigen Jazz-Szene bezeichnet mit 250 Auftritten im Jahr. Der 46-Jährige selbsternannte "Instrumentenbastler", spielt neben Gitarre, Geige, Banjo, Orgelgitarre, Harmonikulele und Steel Guitar mit den Füßen einen einsaitigen Bass. Im September hat er die "Open Mic"-Reihe auf die Beine gestellt. Einmal im Monat gibt's seither das "special concert", das nächste am 15. Februar (www.titus-waldenfels.de). Der Spielort ist für ihn "das letzte verbliebene Wirtshaus im Westend des wunderbar kulturaffinen Wirts" Alex Pantis.

"Jeder soll hier die Möglichkeit kriegen, kurz aufzutreten", sagt Waldenfels bei einer Schorle zwischen zwei Gigs: "Die Leute müssen mir nur vorher schreiben, dass sie spielen wollen. Ich achte auf die Mischung, erlaubt sind alle Sparten bis zur Comedy." Es gibt kein Gecaste vorab, ein Drittel der Auftretenden macht das mehr oder weniger zum ersten Mal, der Rest besteht aus Semi-Professionellen und solchen "die dauernd spielen". Die einen freuen sich, endlich mal außer den eigenen Freunden ein Publikum zu haben, die alten Hasen probieren was Neues aus oder genießen die kuschelige Bühnen-Gemeinde. Außerdem wird hier für einen guten Zweck gejammt: die Schlau-Schule, Schulanaloger Unterricht für junge Flüchtlinge.

"Ich spiel' heute hier", verkündet Roland Hefter, Musikkabarettist mit dünnem Lang-Haar, der sonst auch mal im Zirkus Krone auftritt, "weil ich g'hört hab, der Laden ist so schön!" Den Hefter gibt's nicht ohne erzählte Ausflüge in den Alltag samt Erkenntnissen wie der, dass Kartoffeln einkaufen kompliziert ist, weil jede einen andern Frauennamen trägt, wo es doch vernünftiger wäre, es gäbe für alle Knollen einen "Universalnamen wie Sabine, die jeden Scheiß mitmacht". Später macht sich von der Stelle aus Muriel König an der singenden Säge mit Pianist Stefan Kurz Gedanken über Geschlechter-Befindlichkeiten und koloriert sich stimmlich beachtlich in die Höhe. Die Gurdan Thomas-Band gönnt den Westendlern, Musikerfreunden und zufällig Hereingeschneiten skurrile Brit-Folk-Miniaturen. Der Abend ein wohliges Zappen zwischen Stilen und Sounds, nebenbei wird versonnen am Bierschaum oder dem späten Eis geschleckt - ohne dass die Kompassnadel ihre Ausrichtung verlieren würde. Nicht bei der schürfwunden Tom-Waits-Melancholie des Duos Oligria. Nicht beim entfesselten Finale am Tag, als David Bowie die Sphäre wechselt: Schmetter-Melange aus sämtlichen Künstler-Seelen, erst "Rebel Rebel" und mit nicht weniger Leidenschaft schiebt der herbeigeeilte The Wandrin' Stars-Sänger Manfred Pichler das Straubinger Zuchthauslied nach. Wirtshausseligkeit at its best - währt länger als 15 Minuten.

© SZ vom 15.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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